Fachbereich Finanzen / Wirtschaft / Soziales

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Daniel Kreutz MdL sozialpolitischer Sprecher
Bündnis 90/Die Grünen im Landtag NRW

06.09.99


Grundsätzliche Anmerkungen zur Renten-Diskussion


1. Demografische Herausforderung für den Generationenvertrag?

Die jüngere Renten-Diskussion definiert das zentrale zu bewältigende Problem der Alterssicherung in Deutschland als Problem der "demografischen Veränderung". Scheinbar unumstritten wird davon ausgegangen, dass eine akute Bedrohung der finanziellen Tragfähigkeit der umlagefinanzierten gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) aus der steigenden Zahl älterer Menschen sowie ihrer längeren Lebenserwartung erwachse.

Auf den ersten Blick erscheint einleuchtend, dass die prognostizierte demografische Entwicklung bei unveränderten Finanzierungs- und Leistungsstrukturen der GRV dazu führen muss, dass das Volumen der notwendigen Rentenleistungen in den kommenden Jahrzehnten drastisch ansteigt und der schrumpfende Bevölkerungsteil der Jüngeren in zunehmender Weise mit der Aufgabe überfordert wird, den Rentenbedarf der älteren Generationen zu decken. Damit entstehe ein gravierendes Problem für eine gerechte Lastenverteilung zwischen Jung und Alt. Steigende GRV-Beiträge würden einen immer größeren Teil des Einkommens der Jungen verschlingen und deren eigene Lebensperspektive zunehmend in Frage stellen. Dies führt dann zu der Forderung, die "Gerechtigkeit zwischen den Generationen" durch reformerische Eingriffe in das System der Alterssicherung zu sichern.

Diese Grundannahmen bilden gleichsam die parteien- und "lager"übergreifende "Plattform", auf der sich die heutige Rentendebatte bewegt. Alle Reformvorschläge werden daran gemessen, ob und in wieweit sie die skizzierten Probleme der demografischen Veränderung lösen.
Bei näherem Hinsehen wird diese Definition der zu lösenden Probleme jedoch zweifelhaft. Die Frage, ob auf dem Weg der Unlagefinanzierung das zukünftig steigende Rentenvolumen bedient werden kann, ist eine Frage nach dem Umfang des Mittelvolumens, das über die Beiträge zur GRV umverteilt wird. Das quantitative (demografische) Verhältnis zwischen Jüngeren und Älteren sagt darüber unmittelbar gar nichts aus. Abzustellen wäre vielmehr auf die Zahl der sozialversicherungspflichtig beschäftigten ArbeitnehmerInnen bzw. der BeitragszahlerInnen der GRV, auf den Anteil der ArbeitnehmerInnen am Volkseinkommen (Lohnquote) und auf die Produktivitätsentwicklung.

Von diesen Faktoren ausgehend ist - theoretisch - unschwer vorstellbar, dass bei einem starken Anstieg von Lohnquote und Produktivitätsentwicklung auch eine relativ "kleine" Zahl von Beschäftigten ein "hohes" Mittelvolumen zur Bedienung der Rentenansprüche von "vielen" älteren Menschen mobilisieren kann. Umgekehrt könnte die GRV auch bei einer "großen" Zahl von Beschäftigten (Vollbeschäftigung) und einer vergleichsweise "kleinen" Zahl von RentnerInnen in Schwierigkeiten kommen, wenn die Lohnquote stark sinken würde und die Produktivitätsentwicklung rückläufig wäre.

Diese Zusammenhänge verweisen darauf, dass die Kernprobleme der GRV zunächst keine anderen sind als die für die finanzielle Stabilität der Sozialversicherung überhaupt: im Zentrum steht die Massenerwerbslosigkeit. Strukturelle Massenerwerbslosigkeit bedeutet nicht nur eine relative Schrumpfung der Zahl der BeitragszahlerInnen, sondern bedingt auch, dass die beitragspflichtigen Einkommen nicht in dem Maße steigen, wie dies unter Bedingungen von "Vollbeschäftigung" zu erwarten wäre. Dass es zwischen dem Druck der Erwerbslosigkeit und der Fähigkeit von Gewerkschaften, angemessene Einkommenserhöhungen durchsetzen zu können, einen Zusammenhang gibt, ist allgemein bekannt. Auch aus diesem Grund - und nicht nur wegen der strukturellen Erwerbslosigkeit an sich - entwickelt sich die bereinigte Lohnquote im langfristigen Trend rückläufig.

Bedeutsam ist zweitens die Belastung der GRV mit den Kosten der deutschen Vereinigung. Ohne diese "versicherungsfremde" Sonderbelastung würde die GRV heute über enorme Überschüsse verfügen (das DIW hat dazu Berechnungen angestellt), die zur Absicherung von Zukunftsrisiken angelegt wären.

Beide Krisenfaktoren - die Erwerbslosigkeit und die Sonderlasten der deutschen Einheit - können nicht als "gegebene Rahmenbedingungen" für die GRV in die Zukunft fortgeschrieben werden. Jeder Entwurf zukunftsfähiger Weiterentwicklung des Sozialstaats und jede Perspektive solidarischer Gesellschaft muss vielmehr die sukzessive Bewältigung dieser die sozialen Sicherungssysteme destabilisierenden Probleme einbeziehen.

Ob die GRV auch in kommenden Jahrzehnten, wenn die Ansprüche einer deutlich höheren Zahl von RentnerInnen mit erhöhter Lebenserwartung bedient werden müssen, tragen kann oder nicht, ist folglich nicht eine Frage "demografischer" Entwicklungen, sondern in aller erster Linie eine Frage der Entwicklung der gesellschaftlichen Verteilungsverhältnisse und des Beschäftigungssystems. Würde es in den nächsten Jahrzehnten gelingen, die Erwerbslosigkeit abzubauen, die Bruttoeinkommen zu erhöhen, und die Lohnquote damit kräftig ansteigen zu lassen, bestünde kein Grund zu "Reformen", die in die Fundamente der bewährten GRV einschneiden. Eine positive Produktivitätsentwicklung unterstellt, ließen sich selbst steigende GRV-Beiträge verkraften, ohne dass dies mit sinkenden Realeinkommen verbunden wäre. Abgesehen davon, dass längerfristige demografische Prognosen (hinsichtlich der zu erwartenden Geburtenentwicklung) extrem unsicher sind, wäre es im übrigen nicht unbillig, in einer zukünftigen Phase besonderer Beanspruchung der GRV durch einen besonders hohen RentnerInnen-Anteil an der Bevölkerung der GRV durch Zuschüsse aus dem Steueraufkommen Überbrückungshilfe zu geben - gleichsam als Rückgabe der besonderen Belastungen, die die GRV im gesamtgesellschaftlichen Interesse für die deutsche Einheit getragen hat und weiterhin trägt.

Diese Fragen aber werden in der aktuellen Renten-Diskussion nicht nur unzureichend gewichtet, sondern zunehmend gar nicht mehr gestellt. Mit zunehmender Fokussierung auf das Problem der "demografischen Entwicklung" basiert die Renten-Diskussion auf einer Fehldiagnose, die sehr kostspielige falsche Therapien nach sich ziehen kann.

2. Grundzüge der Reform-Debatte kritisch betrachtet
Im Interesse der Sicherung von "Gerechtigkeit zwischen den Generationen" wird vorgeschlagen, das GRV-Rentenniveau mittelfristig abzusenken und gleichzeitig neue Säulen der Alterssicherung, insbesondere privater und betrieblicher Vorsorge einzuführen. Tatsächlich führen diese Vorschläge dazu, dass die heute Jungen für die von ihnen eingezahlten GRV-Beiträge von knapp 20 % nur noch eine deutlich schlechtere GRV-Rente zu erwarten haben. Dies dürfte die Akzeptanz der GRV und des derzeitigen Beitragsniveaus eher weiter schwächen.

Um zumindest auf ein gleichhohes Niveau der Alterssicherung zu kommen, wie es die GRV den bisherigen Rentnergenerationen bot, werden die heute Jungen zugleich zusätzlich zum GRV-Beitrag mit den Kosten "privater Vorsorge" und womöglich weiteren Kosten für die "Säule" betrieblicher Alterssicherung belastet - je nachdem, welcher Finanzierungsmodus hierfür zu Stande kommt.

Während in der öffentlichen Diskussion heute vielfach suggeriert wird, es sei ein besonderes Interesse der heute jungen Generation, eine "Rentenreform" der skizzierten Art stattfinden zu lassen, ist tatsächlich eher das Gegenteil zutreffend: Die heute Jungen müssten sich eigentlich mit Händen und Füssen gegen die ihnen mit solchen Konzepten zugedachte Mehrbelastung wehren, während die heute Alten dem noch vergleichsweise gelassen entgegensehen könnten - würde nicht mit dem von der Bundesregierung beabsichtigten "Einstieg" (Inflationsausgleich statt Anpassung an die Entwicklung der Nettoentgelte) massiv in die Bestandsrenten eingegriffen.

Eine mittelfristig degressive Entwicklung des GRV-Rentenniveaus kommt der Aufgabe des Zieles gleich, auch im Alter eine Lebensführung zu ermöglichen, die sich an der des aktiven Erwerbslebens orientiert. Schon heute ist die Verrentung mit nicht unerheblichen materiellen Einschränkungen der Lebensführung verbunden, insbesondere für vormalige BezieherInnen kleiner und mittlerer Erwerbseinkommen. Das derzeitige "Standard-Rentenniveau" von 70 % des Nettoentgelts basiert auf 45 Versicherungsjahren und wird überwiegend nicht mehr erreicht. Infolge der strukturellen Diskriminierung von Frauen in der Erwerbsgesellschaft sind sie besonders vom Problem nicht existenzsichernder Kleinrenten betroffen. Bei weiterer mittelfristiger Absenkung des Rentenniveaus fällt der Bruch in der materiellen Lebenssituation zunehmend härter aus. So schrumpft die GRV weiter in Richtung einer unzureichenden "Grundabsicherung", was den Bedarf an anderen Möglichkeiten zur Sicherung eines würdigen Lebensabends erhöht und dem privaten Versicherungsgewerbe neue Kundschaft zuführt.
Eine verbesserte Absicherung besonderer Risiken (weiblicher Biographien und unsteter Erwerbsverläufe) durch "Umverteilung unter den RentnerInnen", d.h. zu Lasten "hoher" Rentenansprü-che, sowie die Einführung einer steuerfinanzierten "Grundsicherung" für KleinstrentnerInnen, die die Inanspruchnahme von Sozialhilfe wegen unzureichender Rente erübrigt, würden dabei zwar besondere Härten auffangen. An der generellen Richtung der Entwicklung ändert dies jedoch nichts.

3. "Neue Säulen": private und betriebliche Vorsorge
Es liegt auf der Hand, dass zusätzlich zu den GRV-Beiträgen aufzubringende Kosten der Alterssicherung insbesondere für BezieherInnen kleiner und mittlerer Einkommen eine erhebliche Zusatzbelastung darstellen. Gerade diejenigen, die bei sinkenden Rentenerwartungen am meisten auf ein ergänzendes Alterseinkommen angewiesen wären, werden sich in der "Säule" privater Absicherung nur bescheidene Zusatzsicherungen leisten können. Wie KleinverdienerInnen, Erwerbslose und Menschen, die aus "prekärem Wohlstand" phasenweise in Armut fallen, die notwendigen langfristigen Beitragszahlungen sicherstellen sollen, scheint völlig offen.

Insbesondere aber ist die "systematische" teilweise Übertragung der Alterssicherung von der GRV auf private Vorsorge damit verbunden, dass sich die Arbeitgeber aus der bisherigen hälftigen Mitfinanzierung der (GRV-)Alterssicherung zurückziehen. Während für das Gros der Bevölkerung die Risiken wachsen, würde die Arbeitgeberseite hiervon massiv profitieren. Die Operation hat somit den gleichen verteilungspolitischen Charme und bedient die gleichen Interessen wie die unter der alten Bundesregierung in der Gesetzlichen Krankenversicherung betriebene Überwälzung von Krankheitskosten durch Leistungsausgrenzung und "Selbstbeteiligung" auf Kranke.

Der ursprüngliche Riester-Vorschlag, die Privatvorsorge als gesetzliche Verpflichtung für alle einzuführen, würde als Kollektivregelung der Alterssicherung immerhin alle - in welchem Masse auch immer - in diese "neue Säule" einbeziehen. Demgegenüber bedeutet die freiwillige Privatvorsorge umso mehr, dass sich die Alterssicherung nach Massgabe der individuellen Brieftaschen richtet. Freiwillige Privatvorsorge zu einer "neuen Säule" zu erklären, ist leerer Symbolismus. Denn schon bisher bilden BezieherInnen höherer Einkommen im Laufe ihres Erwerbslebens Vermögen, auf das sie im Alter ergänzend zu Renten oder Pensionen zurückgreifen. Diesen Vorgang zur "Säule" eines gesellschaftlichen Alterssicherungssystems umzuetikettieren, heißt nichts anderes, als soziale Ungleichheit zum Prinzip zu erheben.
Ähnlich verhält es sich mit der "neuen Säule" betrieblicher Alterssicherung, sofern sie nicht allen Unternehmen, die ArbeitnehmerInnen beschäftigen (auch Kleinbetrieben), verpflichtend auferlegt wird. Doch nicht davon, sondern von "Förderung" und "Schaffung von Anreizen" ist die Rede. Damit hängt der Zugang zu dieser "Säule" davon ab, ob man in einem Unternehmen beschäftigt ist, das sich hier engagiert, oder nicht.

Das von den Gewerkschaften verfolgte Modell der "Tarifrente" würde zumindest Kollektivregelungen für die tarifgebundenen Unternehmen ganzer Wirtschaftszweige schaffen und einem Flickenteppich von Unternehmen ohne und mit - dann womöglich sehr unterschiedlichen - Regelungen entgegenwirken. Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass der Anteil der tarifgebundenen Unternehmen deutlich rückläufig ist. In zahlreichen Betrieben der im Strukturwandel neu entstandenen Wirtschaftszweige sind Tarifvertrag und Betriebsverfassung regelrecht Fremdworte. Während der Zugang zur GRV mit dem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis als solchem gesichert ist, hinge der Zugang zur "Säule" betrieblicher Absicherung von mehreren Unbekannten ab, die seitens der einzelnen ArbeitnehmerInnen nicht beeinflussbar sind.
Eine stärkere Bindung sozialer Sicherheit an das betriebliche Beschäftigungsverhältnis ist grundsätzlich ein Schritt in Richtung einer "Amerikanisierung" unseres Systems sozialer Sicherung. In den "sozialstaatsfreien" Vereinigten Staaten ist soziale Sicherung bei Alter und Krankheit traditionell Teil der einzelbetrieblichen Sozialleistungen (benefits). Nur in vergleichsweise geringem Umfang konnten die schwachen US-Gewerkschaften überbetriebliche Kollektivregelungen halten oder durchsetzen. Die benefits honorieren insbesondere die Dauer der Betriebszugehörigkeit (seniority-Prinzip). Sie machen die ArbeitnehmerInnen noch weitaus stärker als in westeuropäischen Sozialstaaten vom Einzelarbeitgeber abhängig und erpressbar. Zudem verlieren sie an praktischer Relevanz durch den langfristigen Trend einer abnehmenden durchschnittlichen Dauer der Betriebszugehörigkeit.

4. Die Rentenreform-Debatte im Interessenkonflikt
Neben der - eher zur ideologischen Legitimierung als zur seriösen Problembeschreibung tauglichen - Frage der "intergenerativen Gerechtigkeit" gibt es ein zweites, handfesteres Ziel der Renten-Reformdiskussion: die Beitragssätze dauerhaft unter der 20 %-Marke zu halten.
Diese Zielsetzung ist nicht GRV-spezifisch begründet, sondern Teil der generellen "überparteilichen" Zielsetzung, eine weitere Steigerung der "Lohnnebenkosten" zu verhindern und stattdessen Spielräume für deren Absenkung zu gewinnen, weil sinkende Arbeitskosten Voraussetzung für einen wirksamen Abbau der Erwerbslosigkeit seien. Die hier zugrundeliegende These, der zu folge die maßgebliche Ursache der Erwerbslosigkeit darin liege, dass Arbeit in Deutschland "zu teuer" geworden sei, ist bereits ebenso vielfältig und überzeugend kritisiert und entkräftet worden wie die Hypothese, dass eine Umverteilung zugunsten der Unternehmen durch sinkende Arbeitskosten zu Beschäftigungsaufbau führen werde.

Hier ist dagegen folgender Zusammenhang von Bedeutung: Die finanzielle Stabilität der Sozialversicherung wird seit einem Vierteljahrhundert durch steigende und strukturelle Massenerwerbslosigkeit sowie zuletzt durch die Folgeprobleme der deutschen Vereinigung untergraben, während aus dem gleichen Grund die Anforderungen an die Leistungsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme wachsen. Zur Sicherung des Sozialstaats ergibt sich daraus nicht nur die Notwendigkeit, alle Instrumente für einen raschen Abbau der Erwerbslosigkeit zu nutzen, sondern auch, die Sozialversicherung dabei zu unterstützen, die Periode der arbeitsmarktbedingten (relativen) Einnahmeausfälle überbrücken zu können. Dies müsste den Blick zuallererst auf die Frage richten, wie die Sozialversicherung Einnahmeverbesserungen erzielen kann, um funktionsfähig zu bleiben und den gewachsenen Anforderungen durch die soziale Krise gerecht werden zu können.

Für den Umgang mit der Erwerbslosigkeit gilt bisher die Faustregel, dass sie umso sicherer steigt, je geräuschvoller Politik und Arbeitgeber den "Kampf" dagegen aufnehmen. Zugleich ist die herrschende Debatte darauf ausgerichtet, sowohl die Einnahmeseite der Sozialversicherung herunterzufahren (Senkung der Lohnnebenkosten), als auch gleichzeitig den Anteil des Staates (und der Kommunen) am gesellschaftlichen Reichtum zu drücken (Senkung der Staatsquote; Steuersenkungen und -streichungen). Wenn aber der Sozialversicherung jede Möglichkeit genommen wird, notwendige Einnahmeverbesserungen zu erzielen, richtet man den Druck der Beschäftigungskrise in die Systeme selbst hinein. Dort verstärken sich dadurch die Zwänge, mit Leistungseinschränkungen und/oder Kostenüberwälzungen auf die Leistungsberechtigten zu reagieren.

Mit der verstärkten Privatisierung von Lebensrisiken entlässt man die Arbeitgeber aus ihrer Verantwortung zur hälftigen Finanzierung einer ausreichenden und angemessenen Absicherung. Stabilisierung und Absenkung der Sozialversicherungbeiträge führt in erster Linie zur Entlastung der Arbeitgeber, während die ArbeitnehmerInnen die Erhöhung ihrer Nettoeinkommen letztlich mit Verlusten an sozialer Sicherheit selbst bezahlen. Die mit den Sozialversicherungsbeiträgen erworbenen Ansprüche der ArbeitnehmerInnen auf soziale Sicherheit werden auch als "indirekter Lohn" bezeichnet. Ob Erwerbsarbeit mit dem Erwerb sozialer Sicherheit im Alter verbunden bleibt oder nicht, ist für die Lebensplanung der Beschäftigten von hoher Bedeutung.
Eine Rückführung des Anteils der Sozialversicherungsbeiträge am Brutto-Erwerbseinkommen würde zwar zunächst die Nettoeinkommen der ArbeitnehmerInnen erhöhen. Damit sinkt der Erwartungsdruck auf die Gewerkschaften, Einkommensverbesserungen auf tarifpolitischem Weg durchzusetzen. Eine Umverteilung vom "indirekten" zum "direkten" Lohn bedient gleichsam die kurzfristigen Konsuminteressen der Beschäftigten zu Lasten ihrer langfristigen. Die Arbeitgeber finden sich dabei in der Rolle der "lachenden Dritten", weil Ansprüche auf eine Korrektur der Verteilungsrelationen zwischen Kapital und Arbeit (Lohnquote) dadurch aus der subjektiven Sicht vieler Beschäftigter aus dem Blick geraten. Dies erinnert an das Muster der Tarifauseinandersetzungen um Arbeitszeitverkürzung, wo die Arbeitgeber (im Bündnis mit dem rechten Flügel des DGB) mit dem Angebot von Einkommensverbesserungen den ArbeitnehmerInnen ihre langfristigen und strukturellen Kollektivinteressen (Abbau des Drucks der Erwerbslosigkeit durch Arbeitszeitverkürzung) "abzukaufen" suchten.

Im Ergebnis des herrschenden "Reform"-Kurses werden die sozialen Sicherungssysteme auf das Maß zurückgeschrumpft, das auch bei dauerhafter (struktureller) Massenerwerbslosigkeit finanziell selbsttragend sein soll. Der politische Druck, nachhaltige Erfolge bei der Absenkung der Erwerbslosigkeit - der wesentlichen Ursache für die Destabilisierung der Sozialversicherung - zu erzielen, nimmt ab. Die Hinnahme dauerhafter - und latent demokratiegefährdender - Gesellschaftsspaltung durch Erwerbslosigkeit und Armut ist jedoch mit dem Sozialstaatsgebot unvereinbar.

In der Renten-Debatte taucht ferner immer wieder die Forderung nach einer weiteren Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf. Die steigende Lebenserwartung, so heißt es, dürfte nicht dazu führen, dass sich der Lebensabschnitt, den mensch als RentenbezieherIn verbringt, gegenüber dem Abschnitt der aktiven Erwerbsbeteiligung immer weiter ausdehnt. Insbesondere unter Finanzierungsgesichtspunkten ticke hier eine Bombe.

In wieweit die längere Lebenserwartung mit einer längeren Phase gesundheitlicher Beeinträchtigung, Unterstützungs- und Pflegebedürftigkeit verbunden ist, soll hier nicht vertieft werden. Doch eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit würde zweifellos - wie alle Formen der Arbeitzeitverlängerung - den Arbeitmarkt zusätzlich belasten. Die Chancen der jüngeren Generation, Zugang zu regulärer Beschäftigung zu finden, nehmen ab. Eine solche "Therapie" der Finanzierungsprobleme der GRV trägt somit unmittelbar zur Verschärfung der Ursachen dieser Probleme bei. Sie konterkariert die Perspektive, die Sozialversicherung wieder dauerhaft zu stabilisieren und wirkt krisenverschärfend.

Es spricht viel dafür, dass die gegenwärtige Rentenreform-Diskussion faktisch mit einer falschen Diagnose eine falsche Therapie legitimiert, die im Ergebnis die Umverteilung zu Gunsten der Arbeitgeber weiter vorantreibt, während die solidarisch finanzierte Rentenversicherung bei Privatisierung von Altersrisiken demontiert wird. Sie steht damit im Kontext jener neoliberalen Systemveränderung, die im Interesse der wirtschfatlich Starken bereits unter Kohl zur Schleifung des So-zialstaats angesetzt hat.

5. Alternativen sind möglich
Ein "sozialstaatsverträglicher" Weg zur Sicherung der GRV müsste demgegenüber die wirksame Bekämpfung der Erwerbslosigkeit (v.a. rasche Arbeitszeitverkürzung bei Sicherung auskömmlicher Einkommen und Stärkung der Binnennachfrage) verbinden mit der Nutzung aller Möglichkeiten zur sozial gerechten Erzielung von Einnahmeverbesserungen. Statt die zur Alterssicherung verfügbaren gesellschaftlichen Ressourcen noch stärker in GRV-fremde "neue Säulen" zu leiten und damit die GRV weiter zu schwächen, muss stärker als bisher versucht werden, diese Ressourcen der GRV nutzbar zu machen.

Insbesondere gilt es, den Ansatz einer ergänzenden Finanzierung der Sozialversicherung über eine Wertschöpfungs-Abgabe zu operationalisieren. Dieser Ansatz reagiert auf das Problem, dass sich die Unternehmen (besonders in kapitalintensiven Sektoren) bisher mit dem Abbau von Beschäftigung zugleich aus ihrer Mitverantwortung für die Finanzierung der Sozialversicherung verabschieden, obwohl die Ertragslage vom Vorhandensein "sozialpflichtigen" Eigentums zeugt. Der generelle Trend einer Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Beschäftigung ("jobless growth") führt bisher dazu, dass der von den Unternehmen privat angeeigneten Teil der gesellschaftlichen Wertschöpfung auch zu Lasten ihres Beitrags für die Sozialversicherung steigt.

Eine Wertschöpfungs-Abgabe, die das über sozialversicherungspflichtige Beschäftigung erzielte Beitragsaufkommen erhöht, wäre daher ein Kernstück einer sozialstaatskonformen Reform der Finanzierungsgrundlagen der Sozialversicherung. Eine Abgabe wäre hier einer Wertschöpfungs-Steuer dann vorzuziehen, wenn dadurch das Aufkommen systematisch für die Sozialversicherung vorbehalten bliebe. Wie die Vorgänge um die "Öko-Steuer" lehren, ist bei einer Steuer-Lösung eine hohe Neigung der Politik zu befürchten, das Aufkommen anderweitigen fiskalischen Zwecken dienstbar zu machen.

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Daniel Kreutz war bis Mai 2000 Landtagsabgeordneter in NRW

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