Fachbereich Finanzen / Wirtschaft / Soziales


      zurück

Daniel Kreutz

Rentenreform 2000 - Kritik und Alternativen Referatmanuskript,
September 2000


(Anrede)

Die Rentenreform der Bundesregierung bricht an drei Stellen mit bisherigen grundlegenden Prinzipien der solidarischen gesetzlichen Rentenversicherung:

Erstens wird die paritätische Finanzierung durch Arbeitgeber und ArbeitnehmerInnen aufgegeben. Ohne die Reform würden Arbeitgeber und ArbeitnehmerInnen nach den amtlichen Prognosen im Jahre 2030 jeweils 13% Beitrag zur Rentenversicherung zu bezahlen haben. Mit der Reform sollen dann für ein annähernd gleiches Niveau der Alterssicherung wie heute die Arbeitgeber 11% und die ArbeitnehmerInnen 15% Beiträge zahlen, nämlich 11% für die gesetzliche Rentenversicherung (GRV) und 4% für die Privatversicherung.

Zweitens wird der Grundsatz der Lebensstandardsicherung aufgegeben. Die gesetzliche Rente soll nicht mehr wie bisher das Ziel haben, im Alter den im Erwerbsleben erreichten Lebensstandard annähernd zu sichern. Nach "herrschender Meinung" braucht es dazu ein Rentenniveau von 70% des Nettoerwerbseinkommens bei 45 Versicherungsjahren.

Die Regierung will aber das Rentenniveau von heute knapp 70% auf 61% im Jahre 2030 sinken lassen. Blüm zielte mit seinem "demografischen Faktor" demgegenüber "nur" auf 64%. Für die Absenkung sorgt der sogenannte "Ausgleichsfaktor". Der kürzt ab 2011 die Neurenten jedes Jahr um 0,3%, also bis 2030 um insgesamt 6%. Auf der Basis heutiger Werte wird etwa eine Durchschnittsrente von gut 2.000 DM bis zum Jahr 2030 um knapp 300 DM monatlich gekürzt sein.

Nun sagt der Riester: Stimmt ja gar nicht" - wir senken nicht auf unter 61%, wir senken auch nur auf 64%! Und das rechnet der sogar vor. Aber da benutzt er einen Trick. Er berechnet nämlich den Nettolohn, von dem das Rentenniveau abgeleitet wird - also heute die 70% - anders als bisher. Er zieht die 4% für die Privatvorsorge schon ‚mal vom Nettolohn ab, als wäre das ein Pflichtbeitrag zur Sozialversicherung. Bezogen auf diesen verminderten Nettolohn sieht dann die Prozentzahl des Rentenniveaus besser aus.

Drittens will die Regierung den Grundsatz der "ordnungspolitischen Zentralität" der GRV aufgeben. "Ordnungspolitische Zentralität" bedeutet, das für eine angemessene Alterssicherung im Regelfall die GRV zuständig ist und nicht die private Versicherungswirtschaft. Wer genug verdient, um Vermögen zu bilden, der kann das ja bisher auch tun und tut das auch. Aber Aufgabe des Sozialstaats war es bisher, auch denjenigen eine angemessene Rente zu sichern, die kein oder nur geringes Vermögen bilden können.

Durch die Kürzung der sozialen Rente will die Bundesregierung jetzt sozusagen einen Zwang zur Privatversicherung ausüben. Nur wer sich im notwendigen Umfang privat versichert, soll noch eine Alterssicherung auf etwa dem gleichen Niveau haben wie heute. Das ist nichts anderes als eine Teilprivatisierung des Lebensrisikos Alter. Die soziale Rente wird abgebaut, damit die kapitalgedeckte Privatvorsorge aufgebaut wird. Und natürlich, damit die Arbeitgeber bei den Beiträgen entlastet werden.

Das will sich die Regierung knapp 20 Milliarden Mark kosten lassen. Dieser Betrag ist veranschlagt für die Zuschüsse für die Privatabsicherung von Geringverdienenden. Aber viele werden trotzdem nicht in der Lage sein, die gewünschte Privatabsicherung tatsächlich aufzubauen. Wenn man zum Beispiel arbeitslos wird - oder aus anderen Gründen jede Mark um Leben braucht -, dann wird man in der Hoffnung auf bessere Zeiten auch bei der Privatvorsorge sparen müssen. Im Ergebnis wird es eine Menge Leute geben, die nicht oder nicht im erwünschten Umfang Privatbeiträge gezahlt haben. Die stehen dann im Alter mit der drastisch gekürzten gesetzlichen Rente da.

Die staatlichen Zuschüsse sind deshalb weniger unter der Rubrik "soziale Leistung" zu verbuchen, sondern eher unter der Rubrik "Förderung des privaten Kapitalmarkts".

Dann gibt's da ja noch die sogenannte "dritte Säule", die betriebliche Vorsorge. Die spielt sich auch auf dem Kapitalmarkt ab. Da soll es jetzt einen Rechtsanspruch geben auf Umwandlung von Entgelt in Beiträge. Wenn das in größerem Stil passieren würde, dann hätte die Sozialversicherung weitere Einnahmeverluste, weil die Sozialbeiträge von einem entsprechend verminderten Entgelt berechnet würden. Auch das drückt dann noch zusätzlich auf die zu erwartende Rente.

Dieser Systemwechsel weg vom Sozialstaat wird übrigens nicht nur von der Bundesregierung, sondern auch von der EU vorangetrieben. Man zielt darauf, einen gigantischen neuen Kapitalmarkt privater Pensionsfonds aus der Taufe zu heben, wo private Versicherungskonzerne mit den Beiträgen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Geschäfte machen.

(Anrede)

Die Regierung war bei der Rente unter anderem angetreten mit drei Versprechen: Sie wollte

·
was in Richtung einer besseren, eigenständigen Absicherung von Frauen bewegen,
·
Altersarmut verhindern und
·
für "Generationengerechtigkeit" sorgen.

Und was wird jetzt daraus?

Frauen sind natürlich besonders betroffen von der Senkung des Rentenniveaus. Sie haben sowieso die niedrigeren Einkommen und die kürzeren Versicherungszeiten und deshalb auch die kleinsten Renten. Für Frauen war der sogenannte "Standardrentner" mit 45 Versicherungsjahren zu durchschnittlichen Einkommen schon immer eine unerreichbare Fiktion. Nur drei Prozent der Frauen, aber auch nur 36% der Männer erreichen noch die 45 Versicherungsjahre.

Zusätzlich soll noch die Hinterbliebenenrente um 5% auf 55% der Rente des Verstorbenen gekürzt werden, während gleichzeitig noch die Bemessungsgrundlagen verschlechtert werden.

Und bei den Privatversicherern, die ja kein Solidarprinzip kennen, sondern nur das Äquivalenzprinzip, gelten Frauen als "schlechte Risiken", schon weil sie länger leben. Da gibt's keine verbesserte Anrechnung von Kindererziehungs- oder Pflegezeiten (und auch keine Erwerbs- oder Berufsunfähigkeitsrente).

Wenn die Regierung sich jetzt rühmt, dass sie die erwerbstätigen Mütter besser stellen und bei der Hinterbliebenenrente einen kleinen Kinderzuschlag vorsehen will, dann ist das so, als ob einer unter aller Augen die Sau vom Hof klaut, tags darauf ein Schnitzel zurückbringt und dafür als edler Spender gefeiert werden will.

Die Altersarmut wird nicht verhindert, sondern sie wird deutlich zunehmen. Das sinkende Rentenniveau wird künftig Jahr für Jahr mehr alte Menschen unter die Armutsgrenze drücken, also unter 50% des durchschnittlichen Nettoerwerbseinkommens. Das trifft wieder - aber nicht nur - in erster Linie Frauen.

Wir dürfen ja auch nicht vergessen, dass die Regierung schon letztes Jahr mit Eichels "Sparpaket" die Rentenversicherungsbeiträge für Erwerbslose drastisch gekürzt und schon damit neue Risiken der Alterarmut produziert hat. Mit der geplanten Niveausenkung der Rente werden die massiv verschärft

Und man muss im Auge behalten: Wenn die Renten sinken, wird auch früher oder später die Sozialhilfe gekürzt werden. Denn da gilt de facto ein "Abstandsgebot". Wer gearbeitet und in die Sozialversicherung eingezahlt hat soll sich ja hinterher besser stehen als mit Sozialhilfe.

Die "Generationengerechtigkeit" wird durch die Rentenreform nicht gesichert, sondern massiv verletzt. Früher wurde immer verkündet, man müsse die Jungen vor einer drohenden Überforderung durch steigende Rentenlasten einer wachsenden Altersbevölkerung schützen. Jetzt aber will die Bundesregierung gezielt die Jungen am meisten zusätzlich belasten. Für die Jungen geht die gesetzliche Rente in den Keller, und sie müssen alleine die Privatbeiträge berappen, wenn sie um's Sozialamt herumkommen wollen. Auch hier gilt: Die Regierung macht das Gegenteil dessen, was sie versprochen hatte.

Nun ist es aber nicht so, dass diejenigen, die heute schon in Rente sind oder die vor 2011 - also bevor der Kürzungsfaktor zuschlägt - in Rente gehen, ungeschoren davon kämen. Denn auch ihr Rentenniveau sinkt - zwar langsam, aber stetig. Das liegt an dem Trick bei der Nettolohnberechnung. Der sorgt dafür, dass bei einer Rückkehr zur Nettolohnanpassung die Anpassungen entsprechend geringer ausfallen. Auch sollen zukünftige Entlastungen für ArbeitnehmerInnen bei den Abgaben aus dem GRV-Nettolohn herausgerechnet werden. Und die gegenwärtige "Operation Inflationsausgleich" wird ja nicht kompensiert, sondern wirkt durch die Folgejahre fort.

(Anrede)

Das Ganze wird uns selbstverständlich verkauft als "der einzige Weg", um die Rente finanzierbar zu halten, weil die Zahl der alten Menschen und ihre Lebenserwartung ja "schrecklicher Weise" steigt. Das Ganze sei sozusagen ein Sachzwang in Folge des demografischen Wandels.

Nun ist es aber so, dass das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Jungen und Alten an sich über die Finanzierbarkeit der Rente überhaupt nichts aussagt. Richtig ist nur, dass die Rentenversicherung mehr Geld braucht. Ohne die Reform, hat die Regierung ausgerechnet, steigen die Beiträge für Arbeitnehmer und Arbeitgeber auf ja 13%. Das sei aber der Untergang des Abendlands. Vernünftig soll es dagegen sein, dass die Arbeitnehmer schließlich 15% und die Arbeitgeber 11% bezahlen.

Und selbst die Verfechter der Privatrente geben mittlerweile zu, dass das Kapitaldeckungsverfahren keineswegs besser geeignet ist als das Umlageverfahren der GRV, um der demografischen Entwicklung zu begegnen. Wenn einerseits immer weniger Junge in die privaten Fonds einzahlen und andererseits immer mehr Ältere ihre Einlagen auflösen müssen, dann werden nämlich die Renditen in den Keller gehen und das Kapital wird tendenziell entwertet. Und außerdem unterliegt die kapitalgedeckte Absicherung allen Risiken und Wechselfällen der internationalen Finanzmärkte. Deshalb können die Privatversicherer auch nicht Renditen in einer bestimmten Höhe garantieren - und wenn Riester heute sagt, dass sich die Privatbeiträge mit durchschnittlich vier Prozent verzinsen, dann ist das nur eine wohlwollende Vermutung.

(Anrede)

Wir haben bei der Rente kein demografisches Problem, wir haben einzig und allein ein Verteilungsproblem, und zwar zu allererst ein Problem der Verteilung von Arbeit und Einkommen. Wieviel Geld der GRV zur Verfügung steht, hängt ab vom Beschäftigungsstand und von der Höhe der Bruttoentgelte. Hätten wir 2030 Vollbeschäftigung und würden Löhne und Gehälter angemessen von der Produktivitätssteigerung teilhaben, dann bräuchte man sich um das "demografische Problem" überhaupt keine Sorgen machen.

Die "demografische Propaganda" ist irreführend und sorgt nur dafür, einen künstlichen Generationenkonflikt herbei zu reden, die Jungen gegen die Alten aufzubringen, damit Arbeitgeber und Spitzenverdiener die lachenden Dritten bleiben.

Das faktische Ergebnis der Rentenstrukturreform ist die Demontage der solidarischen Rentenversicherung, des Kernsystems der Sozialstaatlichkeit, und zwar in einem Ausmaß, das unter der Kohl-Regierung so nicht vorstellbar gewesen wäre. Heute herrscht aber unter den roten, grünen, schwarzen und gelben Neoliberalen Konsens über die Grundzüge dieser sogenannten Reform. Der Streit geht da nicht mehr darum, ob man den Sozialstaat kaputt macht, sondern nur noch darum, wer sich dabei wie profilieren kann.

(Anrede)

Gibt es machbare soziale Alternativen zu den Plänen der Bundesregierung? Ja die gibt es, und die wären eigentlich das, was für einen zukunftsfähigen Sozialstaat notwendig ist.

Die schlichteste Alternative wäre, einfach die Finger von der Rente zu lassen. Dann würden halt Arbeitnehmer und Arbeitgeber 2030 beide 13% Beitrag zahlen, und das war's.

Aber wir haben einige dringende Probleme in der Rentenversicherung:

·
Der sogenannte "Standardrentner" muss dringen wieder an die Lebenswirklichkeit angenähert werden. Die Versicherungszeiten, die für eine würdige Alterssicherung erforderlich sind, müssen für die Leute im Regelfall auch tatsächlich wieder erreichbar sein.
·
Frauen müssen besser und vor allem eigenständig abgesichert werden. Pflegezeiten und Kindererziehungszeiten - auch für vor 1992 geborene Kinder - müssen zu 100% des Durchschnittsentgelts angerechnet werden. Und die abgeleitete Hinterbliebenenrente muss durch einen eigenständigen Anspruch von angemessener Höhe ersetzt werden.
·
Sogenannte unstete Erwerbsverläufe jenseits der vollkontinuierlichen Beschäftigung zur Regelarbeitszeit müssen besser abgesichert werden, weil die immer mehr zugenommen haben. Das betrifft vor allem Teilzeitarbeit, mit der man sich heute ja in der Regel den Anspruch auf Sozialhilfe im Alter erwirbt. Das betrifft auch Phasen der Aus-, Fort- und Weiterbildung, die ja immer wichtiger werden.

All das kostet zusätzliches Geld. Deshalb braucht die Rentenversicherung im besonderen und die Sozialversicherung im Allgemeinen deutliche Einnahmeverbesserungen, und zwar nach Maßgabe des Verfasungsgrundsatzes von der Sozialpflichtigkeit des Eigentums.

Arbeitgeber sollen sich nicht mehr durch Beschäftigungsabbau zugleich aus ihrer Finanzierungsverantwortung für die Sozialversicherung zurückziehen. Sie sollten zu den Beiträgen eine ergänzende Wertschöpfungsabgabe zahlen (Am Anfang ist das ‚mal unter dem Stichwort "Maschinensteuer" diskutiert worden.) Damit hätte man auch eine Antwort auf das Problem, dass sich Wachstum und Beschäftigung im heutigen shareholder-Kapitalismus entkoppelt haben. Wachstum geht heute überwiegend am Arbeitsmarkt und damit auch an der Sozialversicherung vorbei.

Die Rentenversicherung in Westdeutschland wurde von Kohl einseitig mit hohen Folgekosten der deutschen Vereinigung belastet. Zwischen 1991 und 1999 hat sie 112 Mrd. DM hat sie aus laufenden Überschüssen und Rücklagen zum Ausgleich der Defizite in Ostdeutschland aufgebracht. Eigentlich wäre das eine steuerlich zu finanzierende Aufgabe. Das müsste in Verbindung mit der Einführung einer Abgabe auf Großvermögen für den Aufbau Ost, umfinanziert werden.

Es ist auch überhaupt nicht einzusehen, warum die Besserverdienenden, die mit ihrem Einkommen über der Beitragsbemessungsgrenze liegen, anteilig weniger für die Sozialversicherung bezahlen als die Normalverdienenden, und zwar um so weniger, je mehr sie verdienen. Es ist nicht einzusehen, warum Sozialversicherungsbeiträge nur auf Arbeitseinkommen erhoben werden, aber nicht - wie z.B. in der Schweiz - auch auf Einkommen aus Vermögen. Und es ist nicht einzusehen, warum nur sozialversicherungspflichtig beschäftige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in die Rentenversicherung einzahlen, nicht aber Selbstständige, Abgeordnete, Minister und Beamte. Alt wird jeder.

Es wäre aber durchaus einzusehen, dass der Einkommensmillionär für seine Rentenbeiträge dann nicht auch eine enorm hohe Rente erhält. Denn der wird auf jeden Fall Vermögen bilden und ist auf die soziale Rente kaum angewiesen. Deshalb sollten die nach Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze, der Einbeziehung von Vermögenseinkommen in die Beitragspflicht und der Ausweitung des Versichertenkreises zusätzlich erzielbaren Renten begrenzt werden.

Mit den hier vorgeschlagenen Maßnahmen würde die GRV erhebliche Mehreinnahmen erzielen können, die sowohl die Bewältigung der demografischen Entwicklung als auch die Finanzierung der notwendigen, nach vorne gerichteten Reformen ohne weitere Beitragserhöhungen ermöglichen.

Aber die öffentliche Diskussion über solche Alternativen findet heute nicht statt. Sie unterliegt der Doktrin, dass man wohl über Mehrbelastungen für die Schwächeren in der Gesellschaft reden darf, aber auf keinen Fall über eine angemessene Heranziehung der wirtschaftlich Starken.

Dieses Tabu kann nach meiner Einschätzung nur gebrochen werden durch eine neue Bewegung für einen solidarischen Umverteilungsstaat, die dem Systemwechsel vom Sozial- zum Wettbewerbsstaat eine Alternative entgegensetzt.

Daniel Kreutz

      zurück