Fachbereich Finanzen / Wirtschaft / Soziales und Frauen
DEUTSCHER FRAUENRAT
Offener Brief an
Herrn Bundeskanzler
Gerhard Schröder
Bundeskanzleramt
11012 BerlinKopie an
- den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Herrn Walter Riester -
den Generalsekretär der SPD, Herrn Franz Müntefering - die Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Frau Dr. Christine Bergmann
- die stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion, Frau Ulla Schmidt -
die Vorsitzende des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung des Deutschen Bundestages, Frau Doris Barnett
- die Bundesvorstände der ASF, der AfA und der Jungsozialisten
Bonn, den 19. Juni 2000
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
mit Entsetzen und großer Enttäuschung verfolgt der Deutsche Frauenrat die Debatte zur Rentenstrukturreform auf der Grundlage des Eckpunktepapiers von Bundesarbeitsminister Walter Riester.
Wir können nicht glauben, dass eine rot-grüne Regierung im Konsens mit der Oppositon sich derart an den Grundlagen des sozialen Sicherungssystems vergreift, die Zukunft der gesetzlichen Rentenversicherung aufs Spiel setzt und die eigenständige Alterssicherung von Frauen ad acta legt.
Der angestrebte "Umbau" erfolgt zu Gunsten der privaten Vorsorge und ebnet den Weg zur Privatisierung sozialer Risiken. Dies ist weder ein Beitrag zur Generationengerechtigkeit noch zur Chancengleichheit von Männern und Frauen. Verlieren werden nicht nur diejenigen, die wenig verdienen oder zeitweise nicht im Erwerbsleben stehen, verlieren wird auch die Gesellschaft insgesamt, weil Prinzipien einer solidarischen Gesellschaft aufgegeben werden. Gewinnen wird die private Versicherungswirtschaft, deren Anlagevermögen sich mit den geplanten Maßnahmen in wenigen Jahren verdreifachen wird - ohne dass bisher erkennbar wurde, wie der Gesetzgeber diese Anlagen im Interesse der Versicherungsnehmer durch entsprechende Vorschriften sichern will. Gewinnen werden auch die Arbeitgeber, die schrittweise aus der Lohnverantwortung für ihre Arbeitnehmer entlassen werden. Denn die Aufwendungen für die soziale Sicherheit sind nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH (zur Lohngleichheit) Teil des Arbeitseinkommens. Die geplante Regelung bedeutet den Ausstieg qaus der hälftigen Finanzierung der sozialen Sicherung, die gerade von Sozialdemokraten in der Vergangenheit immer sehr hoch gehalten wurde. Der Ausbau der betrieblichen und privaten Vorsorge wurde von Frauenverbänden
ausschließlich befürwortet als Ergänzung zur im Grundsatz lebensstandardsichernden gesetzlichen Sozialversichertenrente. Niemals können wir einen Ausbau auf Kosten der gesetzlichen Versicherung oder gar als deren Ersatz befürworten!Dass die prvate Vorsorge mit Steuermitteln unterstützt werden soll (durch direkte Bezuschussung oder durch Steuerbefreiung) ist nur vordergründig ein Ausgleich, weil die Steuermittel zu wesentlichen Teilen von den Beschäftigten selbst aufgebracht werden und weil diese Mittel dann an anderer Stelle fehlen, z.B. bei der gesetzlichen Rentenversicherung, wenn es darum geht, Kindererziehungszeiten anzuerkennen - auch für Menschen, die ihre Kinder vor 1992 geboren haben. Man könnte mit diesem Geld auch, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen, für eine vernünftige finanzielle Ausstattung des Erziehungsgeldes sorgen.
Der DEUTSCHE FRAUENRAT hat sich in den vergangenen Jahren immer für eine Reform eingesetzt: eine Reform, die die strukturelle Benachteiligung von Frauen beseitigt, die unterschiedliche Lebensbiographien berücksichtigt, die dem partnerschaftlichen Gedanken der Teilhabe Rechnung trägt. Kurz: eine Reform, die die eigenständige, lebensstandardsichernde Alterssicherung von Frauen voranbringt und die durch Kindererziehung bedingten Nachteile der Frauen auffängt.
Dies ist möglich - Konzepte dazu liegen auf dem Tisch und werden seit Jahren diskutiert - bislang im übrigen im Konsens mit VertreterInnen der SPD und der Grünen. Entsprechende Beschlüsse wurden auch in Ihren Gremien gefasst. Soll das alles auf einmal nicht mehr gelten? Und soll auch nicht mehr gelten, was vor der Wahl versprochen wurde und in der Koalitionsvereinbarung niedergelegt ist?
- Durch die neue Rentenanpassungsformel und den geplanten "Ausgleichsfaktor" wird das Leistungsniveau der gesetzlichen Rentenversicherung selbst beim fiktiven "Standardrentner" mit 45 durchschnittlichen Beitragsjahren in die Nähe des Existenzminimums abgesenkt. Frauen sind dann die ersten, die mit ihren überwiegend unterdurchschnittlichen Entgelten und dem hohen Anteil an Teilzeitbeschäftigung unter die Sozialhilfegrenze rutschen. Sie werden eindeutig die Verliererinnen einer solchen Reform sein. Alle erdenklichen Kinderkomponenten helfen nichts, wenn die gesetzliche Rente ohnehin nur noch ein Minimum der Altersversorgung ausmacht.
- Der "Ausgleichsfaktor", der im Sinne von Transparenz eigentlich Kürzungsfaktor heißen muss, soll immer wirken: wenn tatsächlich privat vorgesorgt wurde und - zur Strafe - auch bei denen, die dies nicht taten
(weil sie vielleicht das Geld zum LEBEN brauchen). Durch den "Ausgleichsfaktor" wird die Privatversicherung zum Quasi-Obligatorium, will Frau nicht gleich zum Sozialamt gehen.- Eine steuerliche Förderung der privaten Vorsorge bei NiedrigeinkommensbezieherInnen (maximal 400 Mark im Jahr) entzieht der gesetzlichen Rentenversicherung die dort dringend benötigten Umverteilungsmittel.
- Teilzeitbeschäftigte Ehegatten zahlen ohne steuerliche Förderung 4%, wenn das Familieneinkommen DM 70.000 übersteigt - falls überhaupt gezahlt wird. Ohnehin muss davon ausgegangen werden, dass in den Familien angesichts des aktuellen Finanzbedarfs nur einmal (!) privat vorgesorgt werden kann - der Ausgleichsfaktor aber kürzt beide Renten.
- In der privaten Vorsorge ist der Solidarausgleich versicherungsfremd. Frauen müssen aufgrund ihrer höheren Lebenserwartung höhere Beiträge abführen, um das selbe Leistungsniveau wie Männer zu erreichen. Das ist in einer quasi-obligatorischen Versicherung diskriminierend.
- Die angekündigte Reform der Hinterbliebenenversorgung hin zu einer partnerschaftlichen Teilhabe und zm Ausbau eigenständiger Anwartschaften durch die Einführung eines Splittingmodells ist gänzlich von der
Tagesordnung genommen! Geblieben ist die Kürzung der derzeitigen Hinterbliebenenrente von der bereits durch den Ausgleichsfaktor und die Senkung des Rentenniveaus ebenfalls gekürzten Rente des Partners.- Dies und die Festschreibung des Anrechnungsfreibetrages in der Hinterbliebenenversorgung auf 1.275 Mark unter Anrechnung auch von Einkünften aus anderen Vermögen bedeutet die sukzessive Abschaffung dieser abgeleiteten Alterssicherung, ohne dass die Frauen etwas anderes dafür bekommen. So haben wir uns den Ausbau der eigenständigen Alterssicherung von Frauen nun wahrlich nicht vorgestellt!
- Die vorgetragene Begründung, ein Partnerschaftsmodell sei wegen der "unteilbaren" Beamtenpensionen verfassungswidrig, ist an den Haaren herbeigezogen. Wir weisen nur darauf hin, daß bei Durchführung des
Versorgungsausgleichs nach Ehescheidung auch Versorgungsansprüche der Beamten seit mehr als zwanzig Jahren in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise geteilt werden.Fazit: Marginale Verbesserungen an dem vorgelegten Konzept ändern nichts an seiner grundsätzlich falschen Ausrichtung. Der DEUTSCHE FRAUENRAT fordert daher die Bundesregierung auf, ihre jüngsten Konzepte vollständig zurückzuziehen. Wir erwarten ein Konzept, das die Renten sichert, anstatt
die gesetzliche Rentenversicherung zu einer beitragsfinanzierten Sozialhilfe zu degenerieren. Zu einer sozialverträglichen Rentenreform gehört die Gewährleistung eines ausreichenden, d.h. lebensstandardsichernden Rentenniveaus, der Ausbau der eigenständigen Alterssicherung von Frauen, ein partnerschaftlich orientiertes Hinterbliebenenrecht und der Ausbau der betrieblichen Altersversorgung zu
einer flächendeckenden Absicherung für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.Der DEUTSCHE FRAUENRAT hofft SEHR, dass die geplante Rentenreform nicht das Werk einer "Großen Koalition gegen die Frauen" bleibt, sondern dass Fraueninteressen über Versicherungsinteressen gestellt werden.
Mit freundlichen Grüßen
(Helga Schulz)
Vorsitzende