Die Firma Tran-S-Port GmbH & Co KG* hat ihre soziale Ader entdeckt. In
einer Pressemeldung teilt die Firmenleitung mit, sie wolle mehreren hundert
Menschen die Existenzgründung ermöglichen. Man habe deshalb ein millionenschweres
Förderprogramm aufgelegt. Davon sollen Existenzgründern zinsgünstige
Darlehen gewährt werden, um ihnen den Start in die Selbständigkeit
zu erleichtern. Die Firma wird gefeiert. Erhält Lob von allen Seiten. Prima!
Existenzgründung? Hatten diese Menschen bisher nicht existiert? Hatten
sie keine Existenz? Nun Ja. Sie arbeiteten bei der Firma Tran-S-Port. Als Arbeiter.
Nehmen wir z.B. Kalle. Kalle arbeitete knapp 40 Stunden die Woche und hatte
ein Brutto-Einkommen von rund DM 5000,--. Seine Familie, Ehefrau und zwei kleine
Kinder, konnten davon zwar keine großen Sprünge machen aber sie konnten
leben. Einmal im Jahr fuhr die Familie in Urlaub, wenn Kalle krank wurde, bekam
er Lohnfortzahlung oder Krankengeld, musste eines der Kinder zum Arzt, bezahlte
die Krankenkasse die Kosten. Wenn er 65 würde, hätte er Anspruch auf
eine Rente, würde er arbeitslos, bekäme er Arbeislosengeld. So weit
so schön.
Vor kurzem wurde ihm, wie vielen anderen seiner Kollegen, gekündigt. Aber,
wie gesagt, die Firma hat ja eine soziale Ader. Sie macht Kalle - wie auch einigen
anderen der Gekündigten (freilich nicht allen) - ein Angebot, das er nicht
ausschlagen kann. Er soll aus dem Millionenfonds der Firma zur Existenzgründungsförderung
ein zinsgünstiges Darlehen von DM 50.000,-- bekommen, um sich selbständig
machen zu können. Als Tranportunternehmer.
Kalle macht sich selbständig
Kalle freut sich. Er findet das prima. Er wird Selbständiger. Davon hat
er immer geträumt. Denn selbständig sein ist in unserer Gesellschaft
ein Wert an sich. Kalle unterschreibt. Er bekommt von seinem früheren Arbeitgeber
ein Darlehen von DM 50.000,-- zu 7.5% Zinsen. Das erste Jahr ist tilgungsfrei.
Nun hat Kalle also ein tolles Startkapital. Davon kann er sich einen LKW kaufen.
Den und weitere Geräte, die er dringend braucht, kann er bei Tran-S-Port
kaufen. Die haben jetzt eine Menge LKW ungenutzt rumstehen. Die Fahrer wurden
ja entlassen. Diese Betriebsausstattung kostet rund DM 50000,--. Tran-S-Port
gibt ihm ein Gebiet, das er künftig zu bedienen hat. Das ist etwas größer
als das, was er bisher als angestellter Fahrer zu bedienen hatte. Naja in 40
Stunden wird er das wohl nicht schaffen, 50 wird er dafür schon brauchen.
Aber was soll's, dafür ist er ja selbständig. Und welcher Selbständige
hat schon eine 40-Stunden-Woche. Er muss jetzt unternehmerisch denken, hat sein
Chef - Pardon: Auftraggeber - gesagt. Er versucht es. Er ist jetzt sein eigener
Chef, arbeitet für sich selbst. Was er bekommt, gehört ihm. Und er
bekommt jetzt mehr als früher. Immerhin DM 6000,-- bis DM 8000,-- kann
er im Monat "verdienen". Und das bekommt er wirklich auf die Kralle,
denkt Kalle. Naja, den Kredit muss er halt abzahlen, aber dafür gehört
der LKW dann allein ihm, und den Sprit und die Steuer und die Versicherung,
und eine private Krankenversicherung für die Familie, und die Altersversorgung,
und abends noch Buchhaltung machen? Das ist zuviel, das kann Kalle auch gar
nicht. Als Selbständiger braucht man einen Steuerberater, ist ja klar.
Naja der macht das auch nicht umsonst. DM 500,-- will der monatlich, dazu nochmal
DM 3000,-- pro Jahr für den Jahresabschluss.
Kalle freut sich. Er ist am Ziel seiner Wünsche, denkt Kalle. Er hat es
geschafft und legt los.
Sein Chef - Pardon: sein Auftraggeber - freut sich auch. Er hat bisher DM 5000,--
an Kalle bezahlt, auch wenn der in Urlaub oder krank war, dazu Weihnachts- und
Urlaubsgeld, Lohnfortzahlung und rund DM 1000,-- Arbeitgeberbeiträge für
die Sozialversicherung. Außerdem spart er jetzt die Kosten für den
LKW. An Kalle zahlt er jetzt DM 6000,-- bis DM 8000,--. Dafür leistet Kalle
jetzt rund 25% mehr als früher, macht kein Urlaub mehr, meldet sich nicht
mehr krank und die Kosten für den LKW trägt Kalle auch selber.
Im ersten Jahr läuft alles ganz gut. Kalle hat eine private Krankenversicherung
abgeschlossen. Die kostet rund DM 800,--. Wegen der Kinder. Tagegeld ist da
nicht drin. Das geht jetzt noch nicht. Der Abschluss einer Rentenversicherung
muss auch noch warten. Kalle ist ja erst 30, da hat er ja noch Zeit für
die Alterversorgung, denkt Kalle.
Kalle denkt unternehmerisch
Arbeitslosenversicherung braucht er ja auch nicht. Als Selbständiger kann
man nicht arbeitslos werden. Er ist sein eigener Chef, da kann ihm niemand kündigen,
denkt Kalle. Naja Urlaub war dieses Jahr auch nicht drin. Er hätte ja dann
nichts verdient in dieser Zeit. Außerdem hat ihm sein Chef - Pardon: Auftraggeber
- gesagt, dass er dann selbst einen Vertreter besorgen müsse. Den hätte
Kalle ja dann auch selbst bezahlen müsen. Die Kosten wären freilich
weiter angefallen. Steuer und Versicherung für den Laster, Krankenkasse,
Steuerberater usw. Aber die Familie hatte ihre Existenz. Naja, das Konto war
überzogen, aber Kalle war selbständig.
Ab dem zweiten Jahr wurde es etwas schwieriger. Jetzt musste Kalle ja rund DM
1000,-- für den Kredit abzahlen. Zins und Tilgung. Naja da muss man durch,
denkt Kalle, dafür gehört der Laster dann aber mir und ich bin selbständig,
denkt Kalle.
Die Ehefrau geht jetzt stundenweise putzen. Mehr geht nicht wegen, wegen der
Kinder. Das Girokonto ist noch mehr überzogen. Bei der Bank hat Kalle noch
einmal DM 50.000,-- aufgenommen. Als Überbrückung. Auch im zweiten
Jahr ist kein Urlaub drin. Er würde seine Tour verlieren, wenn er nicht
selbst einen Vertreter einstellt. Ist ja klar, sein Chef - Pardon: Auftraggeber
- muss ja die Kunden weiter bedienen. Die Pakete können ja nicht drei Wochen
lang im Lager rumstehen. Also Augen zu und durch, denkt Kalle.
Kalle hat Schulden
Am Anfang des dritten Jahres meldet sich das Finanzamt. Kalle hat die Umsatzsteuer
noch nicht bezahlt. Der Steuerberater will auch Geld sehen. Sonst macht er den
Jahresabschluss nicht und rückt auch die Belege nicht raus, die ihm Kalle
zum Verbuchen gegeben hat. Das darf er, wenn die Rechnung nicht bezahlt wird.
Kalle kann nicht bezahlen. Die Steuererklärung wird nicht gemacht, das
Finanzamt macht eine Schätzung. Rund DM 50.000,-- wollen die haben für
die ersten zwei Jahre seiner Selbständigkeit. Kalle hat kein Geld. Er muss
die Familie ernähren, Miete bezahlen, den Sprit, Versicherung und Steuer
für den LKW, das ist wichtig, sonst kann er nicht mehr fahren.
Kalle wird krank.
Er muss für zwei Wochen ins Krankenhaus. Kein Problem, er hat ja eine private
Krankenversicherung. Die übernimmt die Kosten für die Krankenhausbehandlung.
Aber Tagegeld hat er nicht. Die Familie ist ohne Einkommen.
Er müsste jetzt eigentlich eine Vertretung einstellen, die Kosten für
den Laster, Miete, Strom usw. bezahlen. Ohne ausreichendes Tagegeld ist das
nicht möglich. Sein Chef - Pardon: Auftraggeber - muss einen anderen Transportunternehmer
beauftragen. Als Kalle aus dem Krankenhaus kommt, bekommt er eine kleinere Tour.
Die schafft er in 30 Stunden in der Woche. Seine Tour hat nun ein anderer. Er
bekommt jetzt nur noch rund DM 4000,-- im Monat. Die Kosten sind freilich die
gleichen. Seine Schulden steigen. Jeden Monat. Es wird immer offensichtlicher,
dass das Geld nicht reicht.
Mahnbescheide, Vollstreckungsbescheide kommen. Der Vermieter droht mit Kündigung,
weil die Miete nicht bezahlt wurde. Ein Gläubiger lädt ihn zur eidesstattlichen
Versicherung. Dort muss er seinen Auftraggeber angeben. Der Gläubiger macht
eine Forderungspfändung.
"Das geht nicht", sagt ihm sein Chef - Pardon Auftraggeber - "Pfändungen
können wir hier nicht brauchen. Ich kann Ihnen keine Aufträge mehr
geben."
Jetzt sitzt Kalle vor mir. In der Schuldnerberatung. Nach drei Jahren Selbständigkeit
hat er rund DM 250.000,-- Schulden. Er bekommt jetzt Sozialhilfe. Der LKW war
sicherungsübereignet an seinen Chef - Pardon: Auftraggeber. Dort hat er
nach der Verwertung des LKW noch rund DM 20000,-- zu zahlen.
Scheinselbständigkeiten bekämpfen!
Diese Geschichte ist nicht erfunden. In den letzten Jahren haben immer mehr
Unternehmen so gearbeitet, wie hier beschrieben. Eine große Zahl der "Existenzgründungen"
der letzten Jahre waren in Wirklichkeit Scheinselbständigkeiten. Kein Wunder,
dass die Wirtschaftsverbände Sturm laufen gegen das am 1.1.99 in Kraft
getretene "Gesetz gegen Scheinselbständigkeit". Der Wunsch vieler
Menschen, sich selbständig zu machen, wird skrupellos ausgenutzt um Kosten
zu sparen und den "Share-Holder-Value" (früher sagte man Profit)
zu steigern. Diese Menschen werden jetzt von den Wirtschaftsverbänden instrumentalisiert
um gegen das neue Gesetz zu polemisieren. Es ist richtig, der Weg in die "Selbständigkeit"
die "Existenzgründung" wird für viele schwerer. Doch das
liegt durchaus im öffentlichen Interesse. Denn der volkswirtschaftliche
Schaden der durch diese Art der Existenzvernichtung angerichtet wird, ist überhaupt
nicht zu beziffern. Allein der Ausfall, den die Sozialversicherungsträger
haben, geht in die Milliarden. Was wäre gewesen, wenn Kalle bis zum Rentenalter
durchgehalten hätte? Er hatte keine Rentenversicherung. Die Stadt, das
Sozialamt, hätte ihn dann unterhalten müssen. Privatisierung der Gewinne,
Vergesellschaftung der Kosten. StaMoKap lässt grüßen.
Bleibt zu hoffen, dass sich Arbeitsminister Riester gegen die Wirtschaftsverbände und Lobbyisten - auch in seiner eigenen Fraktion - durchsetzen und das Gesetz, wie es ist erhalten kann.
Ein kleines Rechenbeispiel:
Vor seiner "Existenzgründung" hatte Kalle ein Nettoeinkommen von knapp DM 40.000,-- pro Jahr (inkl. Weihnachts- und Urlaubsgeld). Dafür musste er knapp 11 Monate arbeiten (nach Abzug des Urlaubs), rund 40 Stunden pro Woche.
Als "Selbständiger" hatte er Einnahmen von rund DM 84000,-- pro Jahr
Kosten:
Krankenversicherung (ohne Tagegeld) 9600,--
LKW (mit Zins und Tilgung) 30000,--
Steuerberater 9000,--
Sonstige Kosten 5000,--
Steuern 2000,--
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55600,--
Somit verbleiben ihm als Jahresnettoeinkommen nach seiner "Existenzgründung" noch knapp DM 18000,--. Also monatlich weniger als DM 1500,--, wenn er 12 Monate rund 50 Stunden pro Woche voll arbeitet. Jeder Tag Urlaub und jeder Tag Krankheit verringert dieses Einkommen weiter. Von diesem Netto-Einkommen wäre eigentlich auch noch eine Tagegeldversicherung zu zahlen, die so hoch ist, dass er bei Krankheit den eigenen Unterhalt bestreiten und zusätzlich eine Aushilfskraft bezahlen kann, die seine Vertretung übernimmt. Außerdem müsste er davon auch noch eine Altersversorgung finanzieren.
(Bernd Merling)
* Alle Namen sind frei erfunden. Die Geschichte dagegen beruht auf wahren Begebenheiten. Ähnlichkeiten mit tatsächlich existierenden Firmen, Personen und Ereignissen sind weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich.
(Der Autor ist Industriekaufmann und Dipl.-Sozialarbeiter. Er war mehrere Jahre lang Gesellschafter-Geschäftsführer einer kleinen GmbH. Jetzt arbeitet er bei der ASS Schuldnerberatung in Mannheim als Schuldnerberater für Selbständige bzw. ehemalige Selbständige)