Bündnis 90 / Die Grünen haben eine bessere Chance verdient Offener Brief von Tom Sauer Liebe junge Liberalos, Das Verdienst Eures Papiers ist, daß Ihr darin mit dankenswerter Klarheit das strategische Ziel aussprecht, das ein kleiner, aber einflußreicher Teil unserer Partei bereits seit längerem verfolgt: Unter dem Label "Bündnis 90 / Die Grünen" soll auf den Ruinen der alten FDP eine neue öko-libertäre Partei entstehen. Auch der Zeitpunkt der Veröffentlichung scheint mir kein Zufall zu sein: nach der Zustimmung zu Kosovo-Krieg und Sparpaket soll nun die "Machtfrage" innerhalb der Grünen endgültig geklärt, der linke Teil der grünen Partei nachhaltig verunsichert und am besten vollständig aus der Partei gedrängt werden. Euer Problem ist, daß Ihr Euch mit diesem Papier in die Rolle von Epigonen begeben habt. Es enthält keinen einzigen eigenen Gedanken. Im Namen der großen Meister ein wenig Inquisition spielen zu dürfen, mag Spaß machen. Allerdings bedenkt, daß es in den seltensten Fällen die Epigonen waren, die in die Geschichte eingingen. Die Krise von Bündnis 90 / Die Grünen: Schuld sind immer die anderen? Ihr nehmt zurecht die gegenwärtige Krise von Bündnis 90
/ Die Grünen als Ausgangspunkt Eurer Ausführungen. Nur vermisse
ich in Eurem Papier jede ernsthafte Analyse der Krisenursachen. Das
erstaunt mich umso mehr, als zumindest einer seiner Autoren als politischer
Geschäftsführer noch vor kurzem für eines der katastrophalsten
Wahlergebnisse in der Geschichte des hessischen Landesverbandes mit
verantwortlich war. Stattdessen verfahrt Ihr nach dem Motto "Haltet
den Dieb!" und versucht, die Schuld für die Misere der Partei
mit pharisäerhaftem Gestus bei den "moralisierenden Besserwissern"
innerhalb der Partei abzuladen. Ein besserer Ansatz ist es, sich gemeinsam und vorbehaltlos auf die Suche nach den Krisenursachen zu begeben, sich die Mühe zu machen, diese zu identifizieren und eine gemeinsame Strategie zur Krisenlösung zu entwickeln und umzusetzen. Stattdessen stellt Ihr nur einen Antrag zur Geschäftsordnung: "Abbruch der Debatte". In Eurem Papier ist viel von Verantwortung die Rede, und tatsächlich haben Bündnis 90 / Die Grünen in der Regierung eine andere Verantwortung als in der Opposition: nämlich für das Programm einzustehen, für das sie gewählt wurden. Dabei muß der kleinere Koalitionspartner notwendig Kompromisse machen und manchmal auch eingestehen, daß der eine oder andere Punkt nicht umzusetzen ist. Aber eine kleine Regierungspartei bekommt dann die Krise, wenn für einen nennenswerten Teil ihrer Wählerinnen und Wähler der Eindruck entsteht, daß deren Wahlversprechen nicht das Papier wert sind, auf dem sie gedruckt wurden. Mangelhafte Glaubwürdigkeit ist eine wesentliche Ursache der grünen Parteikrise. Das gilt für das Tempo und die Leidenschaftslosigkeit, mit dem einige Exponenten der Partei Abschied genommen haben vom einst gemeinsam getragenen "sozial-ökologischen Reformprojekt". Das gilt auch für den paradoxen Neo-Fundamentalismus, mit dem für die Zustimmung der Grünen zur Teilnahme am NATO-Krieg gegen Jugoslawien moralisch aufgerüstet wurde. Letzteres zeigt zweierlei: erstens, daß selbst die pragmatischte Realpolitik nicht ohne eine moralische Begründung auskommt und zweitens, daß sich diese moralische Begründung an der Angemessenheit der Mittel messen lassen muß, mit der die daraus abgeleiteten Ziele erreicht werden sollen. Es ist einfach dumm, die Kriegsgegner als "moralisierende Besserwisser" zu diffamieren, weil es der eigenen moralisierenden Kriegsbefürwortung die Legitimation entzieht. Die tiefere Ursache für Glaubwürdigkeitskrise der grünen
Partei ist, daß sie in ihrer Regierungspraxis immer mehr ihrer
eigenen Grundwerte ("sozial, ökologisch, basisdemokratisch
und gewaltfrei") in Frage stellt. Euer Papier propagiert nur plump,
was anderswo längst vorgedacht wurde: diese Grundwerte sollen durch
die eines "verantwortungsvollen Liberalismus" ersetzt werden.
Abgesehen davon, daß dies nur darauf hinaus läuft, Leichenfledderei
an einem lebenden (wenn auch nicht sehr lebendigen) Objekt zu betreiben,
solltet Ihr bedenken, was gerade einer der exponiertesten Neoliberalen
(Hayek) klar war: wer die Grundwerte eines gesellschaftlichen Systems
in Frage stellt, sorgt dafür, daß es kollabiert. Das gilt
auch für ein kleines politisches Subsystem wie die grüne Partei.
Leichen zu fleddern, um neue Leichen zu produzieren, ist nicht gerade
ein sehr attraktives Projekt. Die Grünen wurden in allen Wählerumfragen bisher noch als eine Partei links von der SPD wahrgenommen. Ihr empfehlt nun, die vermeintlich frei gewordene "Lücke zwischen SPD und CDU" zu füllen, sozusagen die "Mitte der Neuen Mitte" zu besetzen. Dafür seid Ihr bereit, den linken Flügel der Partei aufzugeben und die PDS dauerhaft zu stabilisieren. Eine seltsame Strategie: links zu verlieren, um rechts zu gewinnen. Der vermeintliche "Erfolg" dieser Nullsummen-Strategie zeigte sich nach der Kosovo-Entscheidung ja bereits bei der Europawahl: die absoluten Stimmen für Bündnis 90 / Die Grünen haben sich halbiert, mehr als die Hälfte ehemaliger grüner EuropawählerInnen ist abgewandert in das Lager der Nicht-WählerInnen, der Ungültig-WählerInnen und der PDS. Dafür könnt Ihr "stolz" darauf sein, daß die FDP deutlich verloren hat. Dafür seid Ihr bereit, grüne Vielfalt zugunsten einer gelb-grünen Einfalt aufzugeben. Das ist wenig "ökologisch" gedacht: Denn in der Ökologie ist Vielfalt eine zentrale Überlebens- und Entwicklungsbedingung. Dafür fordert Ihr angeblich die "Öffnung der Partei": aber nur nach rechts. Die Vernetzung mit den alten und neuen Bündnispartnern in den sozialen und ökologischen Bewegungen lehnt Ihr ab, auf der linken Seite der Partei fordert ihr Ausgrenzung und Abschottung. Wenn ihr tatsächlich unter dem Label "Bündnis 90 / Die Grünen" ein wirtschaftsliberales "Dienstleistungsunternehmen" aufmachen wollt, dann solltet Ihr zuvor erst einmal ein paar Semester Betriebswirtschaftslehre studieren. Eure Strategie wird im Marketing unter dem Stichwort "branding" behandelt: Eine angesehene Zigarrenfirma möchte in den Markt für Rasierwasser vordringen und benutzt dazu seinen eingeführten Markennamen. Eure Strategieempfehlung läuft darauf hinaus, den Kampf um den Rasierwassermarkt aufzunehmen und zugleich die Zigarrenfabriken zu schließen. Das absehbare Ergebnis nennen Betriebswirte "Verlust der Kernkompetenz". Eine Strategie, die selten zum Erfolg führt. Ihr behauptet, daß Ihr "ja zu diesem System" sagt. Ich habe so meine Zweifel, ob Ihr das wirklich so ernst meint. Denn einer der Grundpfeiler funktionierender Marktwirtschaften ist der Schutz geistigen Eigentums. Damit habt Ihr offensichtlich nichts am Hut. Das zeigt sich schon daran, daß Ihr den Begriff der "2. Generation" aus einem Papier von Christoph Erdmenger und Nadia vom Scheidt vom März dieses Jahres geklaut habt, in dem dieser Begriff wesentlich intelligenter als bei Euch mit Inhalt gefüllt wird. Schlimmer noch ist, daß Ihr unter dem Label "Bündnis 90 / Die Grünen" eine neue Partei aufmachen wollt. Aber dieses Label gehört Euch nicht allein. Das Ansehen und die Probleme dieses Namens "Bündnis 90 / Die Grünen" sind ein gemeinsames Produkt aller Beteiligten. Wenn Ihr in Eurem neuen politischen Haus alleine wohnen wollt, dann müßt Ihr Euch für Euer neues Produkt schon einen neuen Namen ausdenken. Was ist "neu" an Eurem Politikstil der Ausgrenzung? Ihr behauptet, Eure Gruppe konstituiere sich "nicht allein über das Alter, sondern über den Politikstil". Der Stil, den Ihr dann in Eurem Papier vorführt, läßt auf nichts Gutes hoffen. So, wenn Ihr "eine teilweise Auswechselung der Mitgliedschaft" fordert und in eitler Verblendung und Selbstüberschätzung "dem Treiben der vielen moralisierenden Besserwisser in unserer Partei aus der Gründergeneration" den Kampf ansagt. Das ist der "Politstil" (wie es später bei Euch heißt) der Inquisition. Dieser Stil diskretiert Eurer Anliegen selbst dort, wo Ihr ausnahmsweise
einmal ein reales Problem von Bündnis 90 / Die Grünen ansprecht:
die "allzu große Kluft zwischen den Beschlüssen der
Partei und dem Agieren von Fraktion und Partei". Ihr benennt sogar
eine wesentliche Ursache dafür: "Das Verabschieden von Programmen
ist bisher insbesondere von den Realos als Abstimmung über unverbindliche
und folgenlose Ziele verstanden worden, die praktisch jedem Kompromiß
zugänglich ist." Diese Aussage ist umso interessanter, als
sie von Matthias Berninger unterschrieben wurde, der in den Medien als
"Koordinator der Realos" gehandelt wird und der sich nun gegen
den Zusammenschluß in Netzwerken wendet, "einzig mit Ziel
Mehrheitsbeschlüsse der Partei zu torpedieren". Merke: Mehrheitsbeschlüsse
waren nur solange belanglos, solange die Realos in der Minderheit waren. · Die Mühe, die Medien zu sachgerechten Informationsbeschaffung
zu nutzen, ist Euch offensichtlich zu groß: Wenn Ihr Euch in den
Zeitungen nicht nur die Karikaturen ansehen würdet, dann wüßtet
Ihr, daß sich am 6. Juni 1999 eben nicht allein "Basisgrün",
sondern ein sehr heterogener Haufen von Grünen, Ex-Grünen
und Noch-Nie-Grünen getroffen hat, dessen Vernetzung mit einem
Aufruf zum Wahlboykott torpediert wurde, der Basisgrün und die
grünen Abgeordneten zum Auszug und zur klaren Distanzierung veranlaßte. Austausch von Worthülsen oder inhaltliche Programmdebatte? Euer Talent, gute Ideen zu leeren Worthülsen verkommen zu lassen,
zeigt sich auch insgesamt in Euren Vorschlägen zur Programm-Debatte.
Eure Lieblingsschlagworte sind hier "Generationengerechtigkeit"
und "nachhaltige Finanzpolitik", um alten Wein in neuen Schläuchen
zu verkaufen. Dazu möchte hier abschließend nur Micha Brumlik
zitieren, der unter dem Titel "Ernstfall Grün" in kaum
zu überbietender Klarheit folgendes formuliert hat: Dieser Begriff, ursprünglich und denkbar harmlos der Forstwirtschaft
entstammend, soll nicht nur die Ressourcenbewirtschaftung, sondern jedes
Politikfeld regeln - zumal die Finanz- und Familienpolitik. Dabei liegen
die Argumente gegen eine sogenannte nachhaltige Finanzpolitik und mittelstandsfreundliche
Wirtschaftspolitik auf der Hand: 2. Der zweite Fehler ist kategorialer Art: Geld und Reichtum sind kein Naturstoff. Während natürliche, fossile Ressourcen grundsätzlich nicht regenerierbar sind, sind menschliche Kreativität und Leistung nicht nur regenerierbar, sondern auch neu erschaffbar. Nicht einmal die klassische Forstökonomie wollte auf Wachstum verzichten. 3. So richtig es ist, daß im Mittelstand ein Löwenanteil künftiger Arbeitsplätze entstehen wird, so richtig ist ebenfalls, daß auch in Zukunft die Mehrheit, vor allem junge Menschen, abhängig beschäftigt sein wird. Warum läßt die Partei diese Gruppe eigentlich außer acht und klammert sich an eine Klientel, die sich bei der FDP ohnehin besser aufgehoben fühlt? Sollte also das Ende vom Lied, die politische Endmoräne der Neuen Sozialen Bewegungen, der Friedens-, Frauen und Umweltbewegung darin bestehen, der Finanzpolitik eines Oswald Metzger zum Durchbruch zu verhelfen und damit Bodo Hombachs Vision einer Angebotspolitik von links' zu stärken? Man kann das wollen - aber der sachliche Bruch zu allem, wofür die Grünen je standen, ist nicht zu übersehen." Dem habe ich vorläufig nichts hinzuzufügen als die dringende Bitte an Euch: In Zukunft mehr Inhalte, bessere Argumente, mehr Fantasie und einen besseren Stil! Es grüßt Euch Tom Sauer, Berlin, am 5. Juli 1999 Ihr erreicht mich unter Thomas.Sauer@gruene.de. Dr. Thomas Sauer, Sprecher Landesarbeitskreis Wirtschaft von Bündnis 90 / Die Grünen in Bayern, bis November 1998 Mitglied des Landesvorstands von Bündnis 90 / Die Grünen in Bayern |