Liebe FunktionsträgerInnen
In Bonn und anderswo!
In den vergangenen Jahren haben wir schon über manche Bonner Geschichten den Kopf geschüttelt. Insofern ist die jetzige Presse nichts Neues. Es scheint in Bonn Naturgesetz zu sein, daß Sommerloch und Krisengeschichten über Bündnis 90/Die Grünen zusammen gehören.
Um Mißverständnissen vorzubeugen: Wir haben nichts gegen innerparteiliche Klärungen, nichts gegen Positionsbestimmungen. Selbst ein falscher Zeitpunkt für eine richtige Debatte wäre verkraftbar. Wir wenden uns aber entschieden gegen Auseinandersetzungen, die nicht den Inhalten, sondern den Personen dienen – oder ihnen bewußt schaden, die nicht der Klärung, sondern der alleinigen persönlichen Profilierung auf Kosten des Gesamtinteresses nutzen.
Was uns veranlaßt, Euch zu schreiben, ist unsere besondere Betroffenheit: im Herbst stehen vier Landtagswahlen an, bei denen es darum geht, den negativen Trend, der die Gesamtpartei begleitet, umzudrehen. Eine realistische Chance dafür gibt es am ehesten bei der Abgeordnetenhauswahl in Berlin. Berlin hat als einziger Landesverband bei der Bundestagswahl 1998 zulegen können und stand bei der Europawahl an der Spitze aller Landesverbände. Auch wir mußten bei der Europawahl Verluste hinnehmen (-1,6%). Jedoch haben wir gegenüber der Bundestagswahl noch zugelegt (+1,2%); ein Ergebnis, daß andere Landesverbände (z.B. Hessen, Bremen, Saarland oder auch Thüringen) frohen Herzens kommentieren würden.
Euer Interesse müßte es sein, diese Möglichkeit der Trendwende zu unterstützen. Wenn Ihr aber hessische oder Bremer Trends möchtet, dann solltet Ihr auf dem eingeschlagenen Weg fortfahren. Wenn die innergrüne Krisen- und Personalityshow weitere Wochen alle Schlagzeilen beherrscht, könnte selbst die relativ stabile WählerInnenschaft in Berlin in ihrer Meinung wanken.
Es sind nicht allein die Papiere der linken oder pseudo-liberalen "Jung"-PolitikerInnen. Uns entsetzt das Bonner Gesamtgemälde, das immer mehr von Profilneurosen, wechselseitigen Schuld-zuweisungen, gezielten Indiskretionen und neuerdings auch noch von Ausgrenzungsversuchen geprägt ist. Die Ausgrenzung eines Teils unserer Mitglieder wie eines großen Teils unserer WählerInnenschaft durch das Papier "Bündnis 90/Die Grünen haben eine zweite Chance verdient" erfordert eine präzise Antwort, gerade vom Bundesvorstand der Partei, die wir leider vermissen.Auch die Führungscrew auf der Fraktionsebene löst alles andere als Begeisterung bei uns aus. Egal wie man den Erfolg grüner ministerialer Umweltpolitik beurteilt: Jürgen Trittin als Sündenbock für alle Fehler aller anderen zu benutzen, ist menschlich inakzeptabel und politisch dumm. Ihn aus den eigenen Reihen mit Rücktrittsforderungen zu überziehen, beschert zwar der einen oder dem anderen ein veritables Medienecho, die politische Folgewirkung für die Gesamtpartei ist aber verheerend.
Das Agieren unserer Fraktionsspitze in der Frage der Rentenreform war gelinde gesagt nicht professionell. Geradezu peinlich aber ist es, daß selbst in den Lokalredaktionen der Berliner Blätter mittlerweile bekannt ist, von wem auch noch die vertraulichsten Informationen in die Zeitungen gelangen.
Unser Problem ist nicht das Programm, wie die Jungliberalos meinen. Unser Problem liegt in der Professionalität bei der Umsetzung der Inhalte innerhalb der Regierung wie in ihrer anschließenden gesellschaftlichen Vermittlung: Gut Gemeintes gut gemacht würden wir sehr begrüßen. Aber genau daran hapert es ja wohl am meisten.
Wie war das bei der Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes? Im Wahlkampf haben wir es bestens gemeint. Im Koalitionsvertrag war es noch gut gemeint. Aber was herauskam, war das gut gemacht? Wo waren da diejenigen, die für das gut Gemachte zuständig sein wollen? Wer hat sie behindert, als sie davor gewarnt hatten, eine solche Reform als Verwaltungsakt über die Bühne zu bringen? Wer stand im Wege, als das gut gemeinte Reformprojekt gut in die Gesellschaft kommuniziert werden sollte? Wer wollte nicht, daß man gemeinsam mit Bündnispartnern für die Reform wirbt, bevor das absehbare Debakel seinen Lauf nahm? War es die 68er Generation?
Der Atomausstieg ist ebenfalls eine gute Sache und kein Plunder vom Dachboden. Wer hat verhindert, daß er gut gemacht wird? Atomausstieg ist nicht primär Energiepolitik, sondern auch Gesellschaftspolitik; die hohe gesellschaftliche Zustimmung zum Ausstieg beruht nicht auf der exakten Sachkenntnis über Begrifflichkeiten wie "Abklingbecken", "Plutonium" o.ä. Die breite gesellschaftliche Mehrheit beruht darauf, daß allgemein anerkannt wird, daß diese Technologie gefährlich ist. Wer hat verhindert, daß die Gefahr für Leib und Leben, für Gesellschaft und jede/n Einzelne/n deutlich wird? Hat jemand verhindert, daß wir am gesellschaftlichen Klima mitarbeiten, um den Ausstieg zu ermöglichen? Waren es wirklich die 68er?
Unser Eindruck ist, daß mit der alljährlichen grünen Sommerlochperformance abgelenkt werden soll von einer ganz anderen Debatte: dem Bilanzziehen von Hessen und Bremen. Nach den katastrophalen Ergebnissen sollte man sich dort eigentlich einmal Rechenschaft darüber ablegen, ob nicht das, was nun der Bundespartei als "modern" angedient wird, schon in den genannten Ländern zum Abstieg geführt hat. Stattdessen bekommen wir den Strategievorschlag, die FDP zu ersetzen. Diese Modernsierungsstrategie führt geradewegs in den Abgrund, in den 5%-Parteien schauen.
Gegen den ebenso luftigen wie überflüssigen Aufsatz der jungen Liberalos hilft das sogenannte linke Gegenpapier, daß vor allem die Aneinanderreihung unserer Magedeburger Beschlüsse vornimmt, wenig. Die aus pädagogischen Gesichtspunkten sicher richtige Wiederholung von bereits Beschlossenem reicht nicht. Auch für die Linke gäbe es eine Reihe von offenen Fragen: Welche Rolle übernimmt sie in der grünen Regierungspartei, und welche eigenen Akzente setzt sie dort? "Raus aus der Mitte" ist keine politische Antwort auf "Rein in die Mitte".
Der Gegenstand der eigentlichen Debatte kommt in keinem der Papiere vor: Das Sparpaket der Bundesregierung. In diesem Jahr entscheidet sich der weitere Weg der Koalition. Wir werden in Berlin die Auseinandersetzung über das Sparpaket führen wie über die Rentenpolitik. Wie wichtig es ist, Kontroversen auch öffentlich zu diskutieren, hat sich in Berlin schon während des Kosovokrieges gezeigt.
Das Sparpaket wirft etliche Fragen auf. So wird bei der Arbeitslosenhilfe eine Milliarde gekürzt, gleichzeitig werden die Unternehmen um acht Milliarden entlastet. Die Diskussion über haushalterische Notwendigkeiten und soziale Gerechtigkeit ist die eigentliche Diskussion, die wir vor uns haben. Wie winzig und lächerlich nehmen sich dagegen die von interessierter Seite bestellten Papierchen aus und welchen Schaden richten sie an!
Berlin ist anders - lautet das zentrale grüne Wahlkampfmotto in Berlin. Dieser Satz bekommt durch die aktuelle Situation einen sehr speziellen Akzent. Mag sein, daß wir mit unserem integrativen Stil nicht besonders modernistisch daherkommen und unsere guten Wahlergebnisse Euch als purer Zufall erscheinen. Dennoch beharren wir darauf, unsere Konflikte und Diskussionen fair und mit Substanz zu führen. Die Ausgrenzung relevanter Teile der Partei - egal von welcher Seite diese Versuche kommen - kommt für uns nicht infrage.
Mit freundlichen Grüßen
Für den Landesvorstand
Regina Michalik (Landesvorstandssprecherin)
Andreas Schulze (Landesvorstandssprecher)
P.S. Willkommen in Berlin!