Grüne nach Kosovo

Der Ausgang des grünen Kriegsparteitags wurde von vielen Mitgliedern der Grünen
zum Prüfstein gemacht, der über ihre weitere Mitarbeit in der Partei entscheiden
sollte.Der Parteiaustritt wegen des Kriegskurses ist zwar lobenswert, übersieht aber,
dass die Grünen nicht allein durch ihren Kosovo-Kurs ihre Prinzipien, mit denen sie
einst angetreten sind, schon lange aufgegeben haben.

Seit der Regierungsübernahme verfolgen die Grünen eine Politik, die mit Ökologie
und sozialer Gerechtigkeit wirklich gar nichts mehr zu tun hat. Geschweige denn mit
Visionen, wohin es mit dieser Gesellschaft einmal gehen könnte. Das grüne Projekt
ist nicht erst mit der Zustimmung zum Angriffskrieg gegen Jugoslawien gescheitert,
sondern schon viel früher: mit der Festlegung auf die "Teilhabe an der Macht".

Ging es den Grünen anfangs darum, die gesellschaftliche Macht in die Hand derer zu
legen, die die Folgen zu tragen haben, also in die Hand der BürgerInnen dieses
Staates, so bedeutet die Hinwende zur "Teilhabe an der Macht" genau das Gegenteil.
Diese staatliche Macht agiert nämlich nicht im Interesse der BürgerInnen, und
jegliche Teilhabe daran bedeutet, sich auf die Seite der Machthaber zu stellen und
nicht auf die derjenigen, die darunter leiden.

Aus dieser Grundsatzentscheidung erwachsen drei Konsequenzen: Erstens, die
Stellvertretermentalität. Ging es früher um die Beteiligung möglichst vieler an
gesellschaftlichen Prozessen, so agieren die Grünen heute stellvertretend. Der
Gedanke einer breiten BürgerInnenbewegung ist der Praxis der demokratischen
Institutionenpolitik gewichen. Der Stellvertreterphilosophie inhärent ist aber die
Grundannahme, dass die BürgerInnen ihr Schicksal nicht selbst in die Hand nehmen
können, sondern dafür Fürsprecher benötigen. Dies auch deshalb, weil die
Sachverhalte, um die es geht, so "komplex" sind, dass nur Politikfachleute sie noch
verstehen und entsprechend handeln können. Die grünen Funktionsträger verkörpern
heute diese Politik, deren einziges Ziel es ist, die BürgerInnen von der
Beanspruchung gesellschaftlicher Macht abzuhalten.

Zweitens, die Sachzwänge. Das Einlassen auf die Teilhabe an der Macht erfordert
auch zwingend das Einlassen auf die sogenannten Sachzwänge dieser Machtpolitik.
Ein gutes Beispiel dafür ist das Argument der leeren Kassen, das die Grünen willig
übernommen haben. Damit wurde aus der Ökosteuer, die einmal der Umsteuerung
zu einer ressourcenschonenden Gesellschaft dienen sollte, ein
Geldbeschaffungsinstrument für die leeren Sozialkassen und damit nichts anderes als
eine Ausplünderung der Schwächsten in dieser Gesellschaft. Auch in der
Steuerpolitik, der Gesundheitspolitik, der Bildungspolitik oder der Sozialpolitik wird
dieses Argument der leeren Kassen bereitwillig akzeptiert; wer darunter leidet, sind
erneut die Ärmsten der Armen (die inzwischen bereits über 20 Prozent dieser
Gesellschaft stellen - mit steigender Tendenz).

Drittens, die Arroganz der Macht. Endlich ist man da, wo man schon immer hin
wollte (auch wenn Fischer nicht wie Schröder vor 20 Jahren am Gitter des
Kanzleramtes gerüttelt hat). Und sofort ist man erfüllt von einer Wichtigkeit, die
Inhalte der Politik zurücktreten lässt hinter einem wahnwitzigen Macherdrang. Wenn
man sieht, wie viele geopolitische Strategen es auf einmal in den Reihen der grünen
Mandat- und Funktionsträger gibt, dann kann man ahnen, wozu Macht verleitet. Da
ist die Chuzpe Joseph Fischers, gleich einen Entwicklungs- und Stabilisierungsplan
für den gesamten Balkan vorzulegen, nur das hervorstechendste Beispiel.

Das Ende des grünen Projekts ist also nicht erst mit dem Kriegsparteitag oder der
Regierungsbeteiligung eingeläutet worden, sondern bereits viel früher. Da sind die
Bedenken vieler grüner Mitglieder, die Partei zu verlassen, kaum verständlich.
Genauso wenig wie die Linken in der SPD es je geschafft haben, den Kurs ihrer
Partei entscheidend zu beeinflussen, genauso wenig werden das die linken Grünen
schaffen. Die Grünen sind eine Machtpartei geworden, und die bürgerInnenfeindliche
Politik, die sie betreiben, wird von der Mehrheit der Mitglieder getragen. Aus
welchen Gründen, das sei hier dahingestellt.

Es kann also nur darum gehen, noch einmal da anzuknüpfen, wo die Grünen auch
begonnen haben: In der Schaffung einer basisdemokratischen und basisorientierten Organisation, die wieder die Themen aufgreift, die die grüne Partei schon lange von der Tagesordnung gestrichen hat. Zum Beispiel:
* die Vision des garantierten Mindesteinkommens und der negativen Einkommensteuer als Alternative zu dem
zusammenbrechenden Sozialsystem;
* die Vision einer weitgehend autofreien Gesellschaft durch innovative Kombinationssysteme aus öffentlichem und Individualverkehr;
* die Vision einer Gesellschaft, die ihren Energiebedarf vorwiegend aus regenerativen Energien bezieht;
* die Vision eines Gesundheitssystems, das sich nicht an den Interessen der Pharmaindustrie oder der
Medizinalbürokratie orientiert;
* die Vision eines Bildungssystems, das mit Hilfe der neuen Technologien endlich das traditionelle Leberwurstprinzip der Schule (Vollstopfen mit Wissen) durchbricht und ein selbstgesteuertes Lernen ermöglicht;
* die Vision eines Europas von unten, das bei weitgehender Dezentralisierung der gesellschaftlichen Entscheidungsmechanismen zu einer Gemeinschaft freier Bürger heranwächst;
* die Vision einer zivilen Gesellschaft, die Gewalt weder nach innen noch nach aussen als Mittel der Konfliklösung betrachtet;
* die Vision einer Gesellschaft, die Raum und Respekt für ihre Kinder schafft;
* die Vision einer Gesellschaft, in der Frauen gleichberechtigt und ohne Furcht am gesamten gesellschaftlichen Leben teilnehmen können;
usw.

Ich kann verstehen, dass viele Mitglieder der Grünen davor zurückschrecken, eine Organisation zu verlassen, die ihnen zur politischen Heimat geworden ist. Aber, um aus der Hetzrede von Cohn-Bendit zu zitieren: "Die Wahrheit ist bitter." Und die Wahrheit ist, dass das grüne Haus von einem Vermieter übernommen worden ist, der sich um die Interessen eines Teils der Bewohner nicht die Bohne schert. Und aus einem solchen Haus wird man über kurz oder lang ausziehen.

Die Perspektive lautet also, aus BasisGruen so bald wie möglich eine wirkliche Organisation zu machen, in der Visionen wieder offensiv diskutiert und zum Inhalt der Politik gemacht werden. Nicht, um dann ebenfalls die Teilhabe an der Macht zu erstreben (da steht mit der PDS schon die nächste grüne Partei in den Startlöchern). Sondern um das zu erreichen, was Gramsci als die "Hegemonie in den Köpfen" bezeichnet hat: die Herzen und die Zustimmung der BürgerInnen. Wenn das gelingt, wird sich die Frage der gesellschaftlichen Macht auf eine ganz neue Art stellen.

Gerd Ruebenstrunk (bonbini@pobox.com)


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