Diskussionsvorlage zum Treffen am 6. Juni 1999 in Dortmund
Keine Rückkehr zur Normalität
- Plädoyer für ein gemeinsames politisches Netzwerk-
Nach dem Bielefelder Beschluß von Bündnis 90/Die Grünen zum
Kosovo-Krieg und in der Summe der Entscheidungen und Positionierung der Bundestagsfraktion
innerhalb der rot-grünen Koalition auf Bundesebene, vor allem in Fragen
der Wirtschafts-, Sozial-, Arbeitsmarkt- und Umweltpolitik, ist die Zeit reif
für ein alternatives politisches Netzwerk. Ein politisches Netzwerk, das
die individuellen Entscheidungen jedesR Einzelnen bezogen auf die persönlichen
Konsequenzen der KriegsgegnerInnen nach Bielefeld respektiert und verbindet.
Ein politisches Netzwerk, das gesellschaftliche Kräfte gegen den Krieg
mobilisiert, aber auch politische Perspektiven für soziale Gerechtigkeit,
Umverteilung von oben nach unten - ohne wenn und aber - sowie in Fragen der
ökologischen Nachhaltigkeit eröffnet.
Gemeinsam sind wir stärker
Die eine Konsequenz nach Bielefeld hat für viele darin bestanden, für
sich persönlich entschieden zu haben, Antikriegsarbeit außerhalb
von Bündnis 90/Die Grünen fortzuführen und die Partei "rechts
liegen zu lassen", da sie
sich von ihrem antimilitaristischem Grundkonsens verabschiedet hat. Diese Konsequenz
ist zu respektieren. Genauso ist die Konsequenz derjenigen zu respektieren,
die für sich entschieden haben, ihre Antikriegsarbeit innerhalb von Bündnis
90/Die Grünen fortzusetzen. Beide Entscheidungen sind vielen von uns alles
andere als einfach gefallen, teilweise nächtelanges Abwägen und Diskutieren
sind die Grundlage für fast jede Entscheidung gewesen, niemand
ist deswegen ein "Kopf- oder Bauch-(Ex)Grüner". Innerhalb von
Bündnis 90/Die Grünen zu bleiben bedeutet - genauso wie außerhalb
-, daß es keine Rückkehr zum Partei-Alltag und damit zur Normalität
geben kann. Orts- und
Kreisverbände, die als Konsequenz nicht mehr als Bündnis 90/Die Grünen,
sondern unter einem anderen Namen zur Kommunalwahl antreten, kehren nicht zur
Normalität zurück. Kreisverbände, Einzelmitglieder oder Abgeordnete,
die ihre "Diäten-Abführung" nicht mehr an die Partei leisten,
sondern für konkrete Antikriegsarbeit einsetzen und/oder in eine Netzwerkstruktur
geben wollen, kehren nicht zur Normalität zurück. KollegInnen, die
ausgetreten sind und ihr
Engagement in andere politische Projekte stecken werden, kehren nicht zur Normalität
zurück.
Gleich welche Konsequenzen aus dem Bielefelder Beschluß gezogen worden
sind, es werden Konsequenzen gezogen, die jeder für sich entscheiden hat
oder entscheiden wird und die wir alle gegenseitig respektieren müssen.
Aus dem
Respekt vor den individuellen Entscheidungen und den gemeinsamen Motiven muß
nun eine gemeinsame Struktur, ein politischer Zusammenhang wachsen. Weder die
einen, noch die anderen handeln falsch oder richtig. Nur wenn es gelingt, gemeinsame
Handlungsoptionen und Organisationsstrukturen zu finden, die es ermöglicht,
auch all diejenigen einzubinden, die außerhalb des "Drinnen oder
Draußen" stehen, können wir eine starke und laute Antikriegsarbeit
fortsetzen.
Es ist absurd zu glauben, man könnte ein Netzwerk instrumentalisieren,
um eine neue "innerparteiliche Strömung" zu bilden, die nichts
anderes ist als die altbekannte Absicherung eigener Machtstrukturen - diese
Option ist falsch! Genauso absurd und falsch ist es zu glauben, aus Bielefeld
die Konsequenz dadurch ziehen zu können, nun eine "Gruppierung der
Ausgetretenen" oder eine neue Partei zu gründen. Keine der beiden
Optionen stärkt die
politische Arbeit gegen den Krieg oder für mehr soziale Gerechtigkeit.
Linke Politik wird dadurch nachhaltig geschwächt. Weder eine neue Partei
noch eine neue Strömung in den Grünen schaffen es, konstruktiv gesellschaftliche
Kräfte zu mobilisieren!
Inhaltliche Konzepte entwickeln und organisatorisch vernetzen
Politische Kooperation und gemeinsames Handeln muß als Netzwerk mit allen
Kräften im gesellschaftlichen Raum organisiert werden. Politische Kooperation
kann sich im Formulieren von gemeinsamen politischen Positionen gegen den Krieg,
für eine zivile, an Grundrechten orientierte Politik festmachen. Politische
Kooperation heißt aber auch, jenseits von Fragen im Rahmen von Krieg und
Frieden Flagge zu zeigen. Neo- und wirtschaftsliberalen Konzepten á
la Hombach mit eigenen Konzepten entgegenzutreten ist gerade jetzt eine wichtige
politische Herausforderung und Notwendigkeit. Es reicht jedoch nicht, sich negativ
an der "Philosophie der Neuen Mitte" abzuarbeiten. Vielmehr wollen
wir konzeptionelle Perspektiven entwickeln, die begeistern und gesellschaftliche
Diskussion auslösen. Die brennenden sozialen Fragen sehen viele schon mit
wenigen Reförmchen als gelöst und gehen damit blind an
unseren gesellschaftlichen Realitäten vorbei. Eine Politik, die de facto
in vielen Bereichen nichts anderes ist als der verlängerte Arm von Lobbyisten
des "share holder value", kann kaum Politik im Sinne sozialer Gerechtigkeit
sein. Vielmehr geht es darum, wesentliche gestaltende Elemente der Politik zurückzugewinnen
und dies klar zu formulieren. Dies gilt nicht nur für die Sozial- und Wirtschaftspolitik,
sondern in gleichem Maße für das Thema
Generationen- und Geschlechtergerechtigkeit, sowie für ökologische
Nachhaltigkeit.
Inhaltlich also ein weites Feld, so weit, daß der ein oder andere leicht
in die Versuchung kommen könnte, alte Wahlprogramme zu recyceln. Genau
das jedoch ist kein Anstoß für gesellschaftlichen Diskurs, sondern
Nostalgie. Es
geht vielmehr um die Verknüpfung von bekannten mit neuen, auf gesellschaftliche
Realitäten bezogenen politischen Konzepten, die streitbare Antworten auf
drängende Fragen geben.
Streitbare Antworten und politische Konzepte dürfen aber nicht im "Hau-Ruck-Verfahren"
zu Papier gebracht, sondern müssen im breiten Diskurs mittelfristig entwickelt
werden. Diesen Diskurs müssen wir von "oben und
unten" strukturieren und organisieren. Dazu brauchen wir ein gut strukturiertes,
gemeinsames Netzwerk mit einer klaren Rollenaufteilung.
Ein Netzwerk kann jedoch nur so stark sein wie der vernetzte Raum selbst.
Notwendig sind professionelle Strukturen: Eine Koordination, die zum einen alle
Ebenen vernetzt und ein mögliches Maß an Informationsfluß organisiert,
die zum anderen aber auch inhaltliche Diskussionen regionalisiert oder regionale
Diskussionen bundesweit zugänglich macht. Dies gilt insbesondere für
den Osten der Republik! Darüber hinaus muß es darum gehen, Foren
zu organisieren, in denen es möglich ist, Diskussionen "outputorientiert"
zu führen: Bundesweite und regionale Foren als Treffpunkt für Positionierung,
Austausch und perspektivisch "campaigning".
Dabei sollten wir nicht in "unserem eigenen Saft schmoren". Von Anfang
an muß deutlich sein, daß es hier nicht um eine "Selbstfindungsgruppe"
geht, die ausschließlich ihren Frust an Bündnis 90/Die Grünen
"abarbeitet", sondern
vielmehr als offenes Netzwerk angelegt ist. Das bedeutet, daß wir ernsthaft
gesellschaftliche Gruppen integrieren oder zumindest entsprechende Angebote
machen müssen. Nur so kann der gesellschaftliche Diskurs beginnen!
Nach Bielefeld kommt Dortmund
Gesellschaftlichen Diskurs beginnen wir in Dortmund, es darf aber kein reiner
Debattierclub werden, der sich mit platten politischen Floskeln aufhält,
sondern ein Netzwerk, das an konkreten Vorschlägen für politisches
Handeln
arbeiten soll. Diese Ergebnisse müssen sich auf zwei Ebenen bewegen: Erstens
die organisatorische und zweitens die inhaltliche. Klare Verabredungen müssen
also am Ende des Treffens stehen, damit wir handlungsfähig werden und ein
ergebnisorientierter Strukturierungsprozeß beginnen kann.
Auf der organisatorischen Ebene muß die Koordination klar benannt und der finanzielle Spielraum ausgelotet werden. Ein arbeitsfähiges "steering committee" (Arbeitsausschuß) muß gewählt werden, um die anstehenden Strukturierungsprozesse legitimiert bewältigen und um einen schnellen Austausch unter verschiedenen Akteuren auf der politischen Bühne herstellen zu können. Daran sind möglichst alle Kräfte im zu vernetzenden Raum zu beteiligen.
Ein wichtiger Baustein der Beteiligung ist das "virtuelle Netzwerken".
Basisgruen(.de) hat gezeigt, wie erfolgreich eine Vernetzung via Internet und
eMail sein kann, daran müssen wir anknüpfen - auch wenn einige vorher
ihre Berührungsängste abbauen müssen! Die neuen Medien allein
machen aber noch keinen Sommer, zumal alle die Chance haben müssen an der
Vernetzung zu partizipieren. Gerade zu Beginn eines Netzwerkes muß es
in nahen zeitlichen Abständen die Möglichkeit geben, direkt miteinander
in einen Austausch zu
treten. Wir sollten im Herbst ein breiteres Treffen organisieren, bei dem der
inhaltliche Diskurs im Mittelpunkt steht.
Ebenso wie die organisatorische ist die inhaltliche Ebene von perspektivischer Bedeutung. Um ein attraktives "linkes" Angebot zu entwickeln, sind die Fragen zu Krieg und Frieden wichtig. Dies kann aber gleichzeitig nur der Ausgangspunkt unserer politischen Arbeit sein, die sich mittelfristig allen gesellschaftlichen Problemen stellen muß.
Wenn Dortmund also eine politische Bedeutung haben soll dann kann diese nur in der Bildung eines gemeinsamen politischen Netzwerks liegen. Keine Rückkehr zur Normalität heißt, unkonventionelle politische Wege gehen.
1. Juni 1999