Netzwerk-Initiative für eine andere Politik


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18. Juli 2000

Memorandum für eine andere Politik

I. Zäsuren im Übergang in das 21. Jahrhundert

1. Vom Rheinischen Kapitalismus zum Shareholder-Kapitalismus

Wir erleben einen Epochenwechsel. Die neoliberale Politik der Globalisierung hat die Umgestaltung des Kapitalismus enorm beschleunigt. Dabei haben wir es mit verschiedenen, auf unterschiedliche Weise miteinander verknüpften Prozessen zu tun. Bereits Mitte der 70er Jahre endete das "golden age" eines beschleunigt akkumulierenden Kapitalismus. Seitdem sind wir konfrontiert mit einer strukturellen Überakkumulation, die durch verstärkte Krisentendenzen und hohe Arbeitslosigkeit gekennzeichnet ist. In diesen Umbruchprozessen zeigen sich die Schranken der fordistischen Entwicklung des Systems der gesellschaftlichen Arbeit. Nicht nur das quantitative Angebot an bezahlter Erwerbsarbeit wurde zum Problem, sondern auch die Qualität: die Fragen nach dem Wie, Was und Wofür der Produktion stehen neu auf der Tagesordnung. In diese Umbruchprozesse ist eingebettet die Zuspitzung ökologischer Krisen aufgrund des extensiven Verbrauchs fossiler Ressourcen und des Setzens auf umweltschädigende Technologien - eine nachhaltige Produktions- und Konsumtionsweise ist zu einem dringenden Erfordernis geworden. Schließlich kam es nach der Deregulierung der nationalen und internationalen Kapitalmärkte zur Herausbildung von Formen eines Casino- und Shareholder-Kapitalismus. Finanzmarkt-Renditen werden zum Maßstab auch für die Verwertung von Kapitalanlagen in Industrie und Dienstleistungen, die Börse wird zum entscheidenden Markt, auf dem über die Zukunft von Arbeitsplätzen und Unternehmen entschieden wird, der Aktionär wird zum bestimmenden ökonomischen Akteur.

Noch in den 90er Jahren lautete eine der entscheidenden gesellschaftspolitischen Fragen, ob die Errungenschaften eines sozialstaatlich zivilisierten "Rheinischen Kapitalismus" gegen die Profit-ansprüche eines marktradikalen angelsächsischen Shareholder-Kapitalismus verteidigt werden können. Heute wird diese Fragestellung bereits als überholt abgetan. Eine begrenzte soziale Abfe-derung der Widersprüche des Shareholder-Kapitalismus scheint das Optimum zu sein, was die in Westeuropa derzeit führenden politischen Strömungen der "neuen Mitte" für möglich halten. Damit ist aber ein Weg zu einem stark ausgrenzenden Kapitalismus vorgegeben. Globalisierung spielt sich ab in einer Triade kapitalistischer Metropolen (Nordamerika, Ostasien, Westeuropa), während die Peripherie der früheren Zweiten und Dritten Welt von der Entwicklung des gesellschaftlichen Reichtums abgekoppelt ist. Gleichzeitig werden in den Metropolen die Gräben zwischen einem Heer dauerhaft oder temporär Arbeitsloser, einem breiteren Gürtel prekärer Arbeitsverhältnisse und einem kleiner gewordenen Kern qualifizierter Beschäftigung tiefer.

Gleichzeitig verändern und flexibilisieren sich die Formen der Anwendung auch der qualifizierten Arbeitskraft. Ein widersprüchlicher Prozess: Einerseits werden unternehmerische Risiken auf die Beschäftigten abgewälzt und der Arbeitsdruck durch neue indirekte Steuerungsmethoden erhöht. Andererseits werden mehr Eigenverantwortlichkeit und erweiterte Dispositionsspielräume in der Arbeit auch positiv empfunden. Zunehmend wird abhängige Arbeit formal selbständig und für wechselnde Auftraggeber verrichtet, oft unterbrochen durch Phasen der Arbeitslosigkeit. Durch diese Prozesse verändern sich Erwerbsbiografien und Bewusstseinsformen sowie Regulierungsanforderungen. Gewerkschaften und soziale Sicherungssysteme stehen vor neuen, schwierigen Herausforderungen.


2. Ende der Systemkonkurrenz - deutsche Einheit

Die politische Zäsur der Jahre 1989/91 war nicht das Ende, sondern die Eröffnung einer neuen Etappe geschichtlicher Entwicklung. Allerdings baut diese mehr auf Trümmern denn auf zukunftweisende Entwicklungspotenziale auf. Das zeigt sich insbesondere am deutschen Einigungsprozess. Die Transformation einer staatssozialistischen Gesellschaft erfolgte im wesentlichen als Negation der ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Verhältnisse. Politische Initiativen, Fort-schrittspotenziale zu erhalten, wurden unterdrückt. Ein breiter gesellschaftlicher Diskurs über die Neugestaltung der sozialen und politischen Verhältnisse - wie ihn das westdeutsche Grundgesetz vorschrieb - war nicht erwünscht. Die marktradikale Politik des Anschlusses der DDR führte zu ei-ner Zerstörung bedeutender wirtschaftlicher und wissenschaftlich-technischer Strukturen, zur Ent-wertung kreativer Fähigkeiten und fachlicher Kenntnisse.

Die Bilanz von zehn Jahren deutscher Einheit ist eine in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nie dagewesenen Massenarbeitslosigkeit von real weit über einem Viertel der erwerbsfähigen Bevölkerung. Alle Versprechen und Zeitpläne der Bundesregierung - blühende Landschaften, Angleichung der Lebensverhältnisse in drei bis vier Jahren, Finanzierung des Transformationsprozesses aus der Portokasse - haben sich als große Lügen erwiesen. In Ostdeutschland vollzog sich der tiefste Einbruch in der Wirtschaftsgeschichte Deutschlands.

In der bisherigen Logik des Einigungsprozesses - die die rot-grüne Bundesregierung beibehält - ist grundlegende Besserung nicht in Sicht. Die Wirtschafts- und Arbeitsmarktentwicklung zwischen West und Ost laufen nicht zusammen, sondern auseinander. Eine Politik der Angleichung der Ein-kommens- und Lebensverhältnisse, wie sie die Gewerkschaften tarifpolitisch versuchen durchzu-setzen, stößt auf den hartnäckigen Widerstand der gesamten politischen Klasse und medialen Öf-fentlichkeit. Mehr noch: Diese praktischen Integrationsansätze werden umgedeutet zu einer Ursa-che für die Probleme Ostdeutschlands. Dass die finanziellen Belastungen einer gescheiterten marktradikalen und neokonservativen Anschlusspolitik über die Sozialkassen abgewickelt werden, ist auch nach einem Jahrzehnt deutscher Einheit kein Anlass für eine Neuordnung des gesell-schaftlichen Lastenausgleichs, sondern wird instrumentalisiert zum Abbau eines angeblich zu teuer gewordenen Sozialstaats. Auf diesem Wege werden die Gräben zwischen West und Ost weiter vertieft. Heute besteht vielfach der Eindruck, dass Konflikte und Spannungen zugenommen haben. Das wechselseitige "Nichtverstehen" ist größer geworden.

3. Reformalternativen

Die politische Mobilisierung für eine andere Politik hat nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn ihr die Skizze eines inhaltlichen Alternativkonzeptes gelingt. Auf der Tagesordnung steht die Frage: Wer-den die Ansprüche der breiten Mehrheit der Bevölkerung den Prämissen des Shareholder-Kapitalismus untergeordnet, oder sind sie Ausgangspunkt eines sozialen Reform-Prozesses und damit Leitbild der zukünftigen Gesellschaftsentwicklung?

Eine soziale Reformbewegung wird die notwendige Gestaltungskraft nur entfalten können, wenn sie sich einen "reformpolitischen Minimalkonsens" als Basis der gemeinsam anvisierten Reformen erarbeitet. Ein Minimalkonsens, der von den unterschiedlichen Strömungen, Organisationen und I-nitiativen als gemeinsamer Rahmen der reformpolitischen Leitbilder akzeptiert wird.

Ein Essential eines zukunftsorientierten Reformprojekts ist die argumentative Durchbrechung der Hegemonie des "Sachzwang Globalisierung", die in Form der Debatte um Standortvorteile, damit der vermeintlichen Notwendigkeit sinkender Lohnnebenkosten und Unternehmenssteuern, auch in den Politikentwürfen der neuen Sozialdemokratie und der gewendeten Grünen fortwirkt. Mehr noch: Diese Politik hat im "Bündnis für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit" einen institutionellen Rahmen und eine "außerparlamentarische Verhandlungsarena" gefunden. Der neue "Wettbe-werbskorporatismus" geht von der Grundannahme aus, dass die Weltmarktkonkurrenz nicht ge-staltbar und veränderbar sei, dass weltweit mobiles Unternehmen sich jeder Umverteilungs- und Auflagenpolitik entziehen könnten und dass insofern mit der Hegemonie des Kapitals die Defensive und Subalternität gesellschaftlicher Gegenkräfte und sozialer Bewegungen festgeschrieben sei. Wir halten das für grundlegend falsch.
Politik, die sich auf Sachzwänge beruft, kaschiert nur ihren apologetischen Charakter hinsichtlich der bestehenden Verhältnisse. Sie ist rückwärtsgewandt und undemokratisch. Da die Globalisie-rung der Finanzmärkte durch Deregulierung bewusst befördert wurde, ist sie ganz und gar kein ir-reversibler "Sachzwang", sondern durch entsprechende Re-Regulierung (Kapital- und Devisen-verkehrskontrollen, Tobin-Tax, Bankenaufsicht etc.) zu korrigieren. Zudem ist die Vorstellung einer grenzenlosen, globalen Mobilität des Kapitals (exit-option) Fiktion, da sich Standortentscheidungen weiterhin auf die Metropolen konzentrieren, und keineswegs maßgeblich durch Lohnkostenverglei-che entschieden werden. Transnationale Integrationsprozesse wie die Europäische Union bieten einen Rahmen dafür, die zweifellos vorhandenen Tendenzen einer Erosion der Nationalstaaten positiv aufzuheben und politische Gestaltungsmacht gegenüber dem Kapital unter Beweis zu stel-len.

Ebenso wichtig wie die Auseinandersetzung mit dem "Sachzwang Weltmarkt" ist ein Konsens in der Frage, wie sich das gemeinsame Reformprojekt auf die Zentralität der Erwerbsarbeit in der heutigen Gesellschaft beziehen sollte. Zu Recht verweisen gerade Teile der Protest- und Selbsthil-feinitiativen der Arbeitslosen darauf, dass unter den Prämissen des "aktivierenden Sozialstaates" das "Recht auf Arbeit" in eine "Pflicht zur Arbeit" und einen Zwang zur Annahme rechtloser, un-tertariflich entlohnter und sinnentleerter Beschäftigung in prekären Arbeitsmärkten umzuschlagen droht. In Kombination mit einer generellen Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen für sozia-le Transferleistungen zwingt mitunter gerade die Arbeitsmarktpolitik der "neuen Sozialdemokratie" immer mehr Menschen in Maßnahmen, aus denen die positiven Aspekte eigenständiger Arbeit und Lebenssicherung zu verschwinden drohen,
Eine reformerische Linke muss die Ablehnung von Modellen eines repressiven Arbeitszwangs ent-schieden unterstützen. Doch angesichts der sozialen Folgen der Massenarbeitslosigkeit liefe eine Reformpolitik, die daraus einen generellen Abschied von der Arbeitsgesellschaft ableitet, Gefahr, die arbeitsmarktvermittelte Spaltung der Gesellschaft hinzunehmen. Erwerbsarbeit, als gebrauchswertorientierte, auf den Erwerbszweck gerichtete und in der öffentlichen Sphäre verrich-tete Tätigkeit wird auf absehbare Zeit für die Mehrheit der Bevölkerung nicht nur die wichtigste Ein-kommensquelle (und damit Basis eigenständiger Lebensführung), sondern auch ein wichtiger Be-reich der persönlichen Identitätsbildung, sozialer Anerkennung und gesellschaftlicher Integration bleiben.

Die Antwort auf die berechtigte Kritik repressiver Arbeitsorientierung liegt demnach nicht im gene-rellen Abschied von der (Erwerbs-)Arbeitsgesellschaft. Sie besteht vielmehr in der Aufwertung der sozialen Qualität von Arbeit als einem unverzichtbaren Feld gesellschaftlicher Reformpolitik. Sollen die Defizite der traditionellen Vollbeschäftigungspolitik überwunden werden, bedarf es eines neuen Leitbildes von Arbeitsgesellschaft und Erwerbsarbeit. Eines Leitbildes, das zum einen auf die Ü-berwindung der Defizite der fordistisch-patriarchalen Arbeitsgesellschaft abzielt und zum anderen die Diskriminierung von Tätigkeiten außerhalb des Erwerbssektors, insbesondere Reproduktions- und Erziehungsarbeit, beendet. Die Entwicklung der gesellschaftlichen Bedarfe an Dienstleistun-gen (Erziehung, Bildung, Kultur, Pflege usw.) bezieht auch die Reproduktionsarbeit zunehmend in die Erwerbssphäre ein - es gilt, diesen Prozess so zu gestalten, dass sowohl Geschlechter- wie Klassenschranken eingerissen werden, statt sie durch Niedriglohnsektor-Strategien neu zu vertie-fen. Neben der sozialen Qualität der Arbeit werden in einem zukunftsorientierten Arbeitsmodell zugleich die Auflage ökologischer Nachhaltigkeit von Produktion (und Konsumtion) und nicht zu-letzt die Notwendigkeit eines gleichberechtigten Zugangs von Männer und Frauen zum gesell-schaftlichen Arbeitssystem die zentralen Bezugspunkte sein müssen.



II. Das Projekt der Umverteilung und sozialen Gestaltung von Lebenschancen

Ein Politikkonzept für eine sozial und ökologisch nachhaltige Politik muss also an dem zentralen Stellenwert der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit ansetzen und zugleich über eine platte "Arbeit-Arbeit-Arbeit"-Strategie hinausweisen. Erforderlich ist ein umfassendes Projekt der solida-rischen Umverteilung von Lebenschancen. Ein daran ausgerichtetes Konzept könnte sich an vier Umverteilungs-Projekten ausrichten, die ineinander greifen und als Ganzes auf eine grundlegende Reform der kapitalistischen Gesellschaft hinauslaufen.

1. Umverteilung von Arbeit

Im Zentrum einer solidarischen Reformpolitik muss die Orientierung am Ziel der Herstellung von Vollbeschäftigung stehen. Auf Massenarbeitslosigkeit lässt sich keine solidarische Gesellschaft aufbauen. Mehr Beschäftigung von einer Beschleunigung des Wirtschaftswachstums zu erwarten, wie dies neoliberale Angebotspolitiker propagieren, ist illusionär. Zum einen, weil die Zeiten des "Wirtschaftswunders" nicht rückholbar sind. Zum andern aber auch, weil die entscheidende und sicherlich nicht widerspruchsfreie Aufgabe darin besteht, Beschäftigung mit einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung zu koppeln. In den heutigen Gesellschaften existiert - insbesondere nach dem Verfall der öffentlichen Infrastruktur durch die neoliberale Privatisierungsoffensive - eine Vielzahl von Feldern des sozialen und ökologischen Bedarfs. Aufgabe einer zukunftsfähigen Wirt-schaftspolitik muss es sein, durch Formen direkter wie indirekter Ressourcensteuerung mit dem Ziel einer Steigerung der Energie- und Ressourcenproduktivität aus diesen Bedarfsfeldern Sekto-ren gesellschaftlich sinnvoller Beschäftigung werden zu lassen. Das ökologische Postulat der Zu-kunftsfähigkeit kann ohne Vollbeschäftigungspolitik nicht handlungsmächtig werden. Selbstredend geht es nicht um eine neue Variante einer zentralen Planwirtschaft. Vielmehr werden neue Formen einer "mixed-economy" erprobt werden müssen, in denen unterschiedliche Eigentumsformen und Allokationssysteme ausbalanciert werden und einander ergänzen.
Ein zentraler Aufgabenbereich ist der Wiederaufbau einer öffentlichen Infrastruktur, was Investitio-nen in Umweltschutz, Bildung, Kultur, soziale Dienste usw. erfordert. Ein zweifellos konfliktreicher Weg. Denn Voraussetzung ist, dass im Verteilungskonflikt um die zukünftigen Produktivitätszu-wächse ein deutlich höherer Anteil für den gesellschaftlichen Bedarf gesichert werden kann. Dieser könnte in den Auf- und Ausbau eines Sektors öffentlich geförderter Beschäftigung investiert wer-den, in dem die genannten gesellschaftlichen Bedarfsbereiche arbeitmarktpolitisch erschlossen werden. Dieses öffentliche Engagement ist unverzichtbar, da über die zukünftigen Wachstumsra-ten und den "ersten Arbeitsmarkt" vor allem für das Segment der älteren und geringer qualifizier-ten Dauer-Arbeitslosen keine ausreichenden Perspektiven eröffnet werden können.

Politische Initiativen zur Schaffung von Niedriglohnsektoren vor allem in expandierenden Dienst-leistungsbereichen verstärken die Spaltungstendenzen auf dem Arbeitsmarkt. Bereits heute wird ein Viertel bis ein Drittel der Frauen in Vollzeiterwerbsarbeit so niedrig entlohnt, dass ihr Lohn unter der Armutsgrenze liegt. Ein besonders hohes Armutsrisiko besteht bei prekären, ungeschützten, oder tariflich nicht regulierten Beschäftigungsverhältnissen. Umso wichtiger ist es für eine soziale Reformstrategie, am Grundsatz existenzsichernder Arbeit zu tarifvertraglich und gesetzlich ge-schützten Bedingungen keine Abstriche zu machen. Deshalb unterstützen wir die Forderung nach einem existenzsichernden gesetzlichen Mindestlohn.

Der Kampf um die Verteilung der Produktivitätszuwächse muss in das Zentrum gewerkschaftlicher Tarifpolitik gerückt werden. Zum einen in der Arbeitszeitpolitik. Neben der Neuschaffung von Ar-beitsplätzen muss die solidarische Umverteilung von Arbeit erneut als gesellschaftliches Reform-projekt konzipiert und konfliktfähig gemacht werden. Soll Arbeitszeitverkürzung positive Beschäfti-gungseffekte zeitigen, muss sie schneller voranschreiten als die Produktivität wächst. Es geht also um große Schritte der Verkürzung der Lebens- und der Wochenarbeitszeit, z.B. durch die 30-Stunden-Woche. Auch Modelle der Verkürzung individueller oder gruppenspezifischer Arbeitszei-ten - einschließlich Fortbildungszeiten, Elternurlaub, Sabbatjahre, geschützter Teilzeitarbeit usw. - müssen in die Debatte einbezogen werden. Bereits eine um drei Stunden verkürzte Wochenar-beitszeit könnte zusammen mit der Halbierung der Überstunden und weiteren flankierenden Maß-nahmen neue Erwerbsarbeitsplätze in Millionenhöhe schaffen.

Die Verkürzung der Arbeitszeiten ist durch staatliche Politik zu fördern. Neben einer Reform des Arbeitszeitgesetzes, bei der die Obergrenzen für die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit und der Spielraum für Überstunden stark reduziert werden, ist die finanzielle Förderung von Arbeitszeitver-kürzung durch die öffentlichen Haushalte bzw. die Bundesanstalt für Arbeit sinnvoll, mit der insbe-sondere Einbußen bei den Einkommen und Sozialansprüchen bei starken Arbeitszeitverkürzungen abgefangen werden können.

Der Arbeitszeitpolitik kommt nicht nur eine beschäftigungspolitische Bedeutung zu. Dauer, Lage und Verteilung der Arbeitszeiten bilden die Schnittstelle zwischen Arbeits- und Lebenswelt. Die Gewerkschaften müssen Bedürfnisse nach einer besseren Vereinbarung von Arbeits- und Lebens-zeit in ihren Arbeitszeitpolitiken stärker als bisher aufgreifen und in konkrete Arbeitszeitmodelle umsetzen. Die Arbeitszeitverkürzung flankierende Maßnahmen wie Frauenförderpläne, flächendeckende Ganztagskinderbetreuung und der weitere Ausbau von Pflegediensten könnten dazu bei-tragen, den diskriminierenden Ausschluss von Frauen aus der Erwerbstätigkeit zurückzudrängen. Dabei geht es um nicht weniger als um eine Neudefinition des Verhältnisses von Produktions- und Reproduktionsarbeit. Erst wenn auch die Gewerkschaften die Fähigkeit entwickeln, die gesellschaftlichen Arbeitszeitsysteme nach den Bedürfnissen der privaten Lebensführung und den An-sprüchen der sozialen Lebenswelten optional auszustatten, können Chancen auf mehr Zeitsouve-ränität und individuelle Selbstbestimmung realisiert werden. Individuelle Zeitsouveränität der ab-hängig Beschäftigten ist nur möglich, wenn der Vorrang betrieblicher Verwertungsinteressen zu-rückgedrängt wird.

Die Antwort auf die Erosion des tradierten Normalarbeitsverhältnisses kann weder darin bestehen, dessen Orientierung an männlichen Erwerbsbiographien zu ignorieren oder gar zu verteidigen, noch darin, dass man einer schrankenlosen Flexibilität des Arbeitsverhältnisses das Wort redet. Es geht um die Gestaltung eines neuen, nichtdiskriminierenden Normalarbeitsverhältnisses auf der Grundlage deutlich verkürzter Wochenarbeitszeiten und umfassend erweiterter sozial-kultureller Dienstleistungen (z.B. hochwertige Ganztagsbetreuungseinrichtungen für Kinder und humane Pflegedienste). Die Reformperspektive liegt darin, einer neuen Regulierung der Erwerbsarbeit die Diskontinuitäten des Erwerbslebens, die sich aus einem Leben mit Kindern oder pflegebedürftigen alten Menschen unvermeidlich ergeben, als Regelfall zu Grunde zu legen. Erst dadurch hört das Problem der "Vereinbarkeit von Familie und Beruf" auf, als ein "Sonderproblem" zu erscheinen, das in prekäre Sonderarbeitsformen entsorgt werden kann. Nur in dieser Perspektive ist die Neu-verteilung von Arbeit zwischen den Geschlechtern eine realistische Fortschrittsperspektive.

Auch die veränderten Erwerbsbiografien, die sich aus dem häufigeren Wechsel des Arbeitsplatzes, Phasen der Weiterbildung oder der Arbeitslosigkeit, Wechsel zwischen unselbständiger und selb-ständiger Erwerbstätigkeit, bedürfen einer verbesserten sozialen Absicherung. Die Arbeitslosen-versicherung ist dahingehend weiter zu entwickeln, dass sie solche Übergänge abstützt und zu ei-ner Versicherung aller vom Einsatz ihrer eigenen Arbeitskraft abhängigen Menschen wird.

Projekt 1: Wir halten fest an der Forderung nach Vollbeschäftigung für alle auf der Grundlage eines neuen Normalarbeitsverhältnisses. Workfare und Niedriglohnbeschäftigung ver-stärken Spaltungs- und Ausgrenzungsprozesse. Die Arbeit der Zukunft wird qualifizierte Arbeit sein, die Teil hat an der Entwicklung des gesellschaftlichen Reichtums und verstärkt an der Befriedigung der gesellschaftlichen Bedürfnisse statt an der Realisierung des höchstmöglichen Shareholder value orientiert ist.


2. Umverteilung von Einkommen und Vermögen
Arbeitgeber und angebotsorientierte Wissenschaft sind längst von dem einst idealisierten Konzept der "produktivitätsorientierten Lohnpolitik" abgerückt und verwenden viel Energie darauf, Lohn- und Gehaltssteigerungen unterhalb der Produktivitätsentwicklung als einzige beschäftigungskom-patible Leitlinie zu propagieren. Doch real ist das gerade Gegenteil der Fall. Die tarifpolitische Trias aus Teuerungsrate, Produktivitätsentwicklung und Umverteilungskomponente mag angesichts der Strukturentwicklungen der globalen Ökonomie an Plausibilität eingebüßt habe. Der in ihr zum Ausdruck kommende Wille zu einer "umverteilenden Tarifpolitik" ist jedoch aktueller denn je


Neben der Korrektur der Primärverteilung bedarf es einer Wiederbelebung staatlicher Sekundärverteilung. Die rasant gestiegene Arbeitsproduktivität hat den gesellschaftlichen Reichtum erheblich erhöht, das Problem liegt in der dysfunktionalen Verteilung. Die wachsende Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen hat nicht nur die soziale Polarisierung forciert, sondern wirkt längst auch ökonomisch kontraproduktiv. Die zunehmende Einkommenskonzentration hat, aufgrund der geringen Konsumquote bei den oberen Einkommensklassen, das Problem der strukturellen Nachfrageschwäche erheblich verschärft. Eine staatlich vermittelte Umverteilung zugunsten niedriger und mittlerer Einkommen könnte die Nachfrage und in Folge dessen die seit Jahren unzureichende Investitionsquote beleben und wäre somit nicht nur ein Gebot sozialer Gerechtigkeit, sondern zugleich der ökonomischen Effizienz. Um nur eine Zahl zu nennen: Die gesamten Sozialhilfeausgaben der Bundesrepublik für Hilfe zum Lebensunterhalt betragen nicht einmal 0,4% des im oberen Drittel der Gesellschaft konzentrierten Vermögensbestandes der Privathaushalte (d.h. ohne Geldvermögen der Unternehmen) und nicht mehr als ein Fünfzehntel ihres jährlichen Geldvermögenszuwachses.

Hierzu liegen die unterschiedlichsten steuerpolitischen Verschläge auf dem Tisch. Dabei geht es zum einen darum, die notwendigen Ressourcen für eine Reform der sozialen Sicherungssysteme zu erschließen. Das lohn- und beitragsbezogene System der sozialen Sicherungen bedarf der Er-gänzung durch eine "bedarfsorientierte Mindestsicherung". Sie ist ein wirksamer Schutz vor Ein-kommensarmut und ermöglicht eine Lebensführung, die der Würde des Menschen entspricht. Da-bei geht es nicht um eine generelle Entkoppelung von Arbeit und Einkommen, wohl aber um eine Ergänzung der beitragsfinanzierten Sozialversicherungsleistungen durch eine steuerfinanzierte Komponente sowie um die Wiedereinlösung des Teilhabeversprechens der Sozialhilfe in einer zeitgemäßen bürgerrechtlichen Form.

Zweitens muss das Steuersystem zum Grundsatz leistungsorientierter Besteuerung zurückkehren, was de facto immer weniger der Fall ist, da die unteren und mittleren Einkommen aus unselbstän-diger Arbeit überproportional belastet werden, während in den höheren Einkommensklassen von einer progressiven Besteuerung zunehmend abgewichen wird. Eine Entlastung vor allem in den unteren Bereichen muss also mit der Durchsetzung eines konsequent progressiven Steuertarifs gekoppelt werden. Für eine Senkung des Spitzensteuersatzes sprechen weder rationale wirt-schafts- noch finanzpolitische Gründe, damit würde nur die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums nach "oben" fortgesetzt. Grundsatz muss vielmehr die vollständige und leistungsorien-tierte Besteuerung aller Einkommensquellen sein - damit die Beseitigung der vielfältigen und groß-zügigen Privilegien für Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen. (Beispielsweise könn-te die überproportionale Begünstigung Besserverdienender durch Kinderfreibeträge ersetzt werden durch ein wesentlich erhöhtes, an tatsächlichen Kosten orientiertes Kindergeld.) In diesem Kontext gehört auch die Umstellung auf ein Ehegatten-Realsplitting, was allein zweistellige Milliardenein-nahmen in die öffentlichen Kassen bringen würde.

Für eine weitere Unternehmensteuerentlastung besteht - gerade auch im internationalen Vergleich wie OECD-Untersuchungen belegen - kein Anlass; faktisch nötigt die Bundesrepublik Deutschland den anderen kapitalistischen Metropolen (selbst den USA und Großbritannien) einen Steuerdum-ping-Wettlauf auf. Die Besteuerung leistungsloser Einkommen (Vermögen, Erbschaften) muss durch die Wiedererhebung der Vermögensteuer und eine zeitgemäße Erbschaftsteuer in Angriff genommen werden. Die steuerpolitische Diskriminierung von reinen Finanzmarktinvestitionen kä-me hinzu.
Nach wie vor gilt, dass sich nur reiche Leute leere öffentliche Hände leisten können. Deshalb muss der Staat sich als Umverteilungsstaat betätigen, der über eine hinreichende finanzielle Basis für ei-ne an Vollbeschäftigung und soziale Zukunftsvorsorge orientierte Politik verfügt.

Projekt 2: Eine solidarische Gesellschaft erfordert eine solidarische Verteilung des gesell-schaftlichen Reichtums. Wir fordern einen gesetzlichen Mindestlohn und soziale Mindest-sicherung, um Armut effektiv zu bekämpfen. Wir setzen uns ein für einen steigenden Anteil der abhängigen Arbeit am gesellschaftlichen Reichtum, um den Fall der Lohnquote in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu kompensieren. Neben der progressiven Besteuerung aller Einkommensquellen fordern wir die Einführung einer ergiebigen Vermögensbesteue-rung und die steuerliche Diskriminierung von Finanzanlagen gegenüber Realinvestitionen.

3. Verminderung von Umweltverbrauch
Auch beim "Verbrauch von Umwelt" handelt es sich um einen Verteilungskonflikt - einen Konflikt um die Verteilung und Nutzung von natürlichen Ressourcen sowie der Absorptionsfähigkeit der Biosphäre zwischen Regionen ("Nord - Süd") und Generationen ("Jung - Alt"). Dabei ist die räumlich-globale Dimension der Umweltzerstörung unmittelbar an das Problem der sozialen Ver-elendung weiter Weltregionen gekoppelt. Soziale und ökologische Nachhaltigkeit sind zwei Seiten der gleichen Medaille - ein theoretisch wie praktisch zigfach bewiesenes Essential einer transnati-onalen Umweltpolitik.

Angesichts der fortgeschrittenen ökologischen Zerstörung und des weiterhin beschleunigten Verbrauchs fossiler Energien muss jede Maßnahme der Reduzierung von Umweltbelastungen (z.B. der Treibhausgase) - und sei sie im Einzelfall noch so bescheiden - mit höchster politischer Priorität durchgesetzt werden. Wie groß die Widerstände dabei sind, dokumentiert der gescheiterte Versuch eines Ausstiegs aus der Atomtechnologie. Der zwischen Bundesregierung und Energie-konzernen ausgehandelte "Atomkonsens" garantiert den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke in Deutschland und orientiert sich einseitig an den ökonomischen Interessen der großen Energieun-ternehmen und nicht an den Sicherheitsinteressen der Bevölkerung.

Das Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt und Energie hat 1998 in einer Studie aufgezeigt, dass Atomausstieg und die Verminderung der CO2-Emissionen in Deutschland durch eine Energiewende innerhalb von fünf Jahren machbar sind. Ein internes Arbeitspapier des Bundesumweltministeriums vom August 1999 hat im übrigen verdeutlicht, dass die Sicherheitsstandards in deutschen AKWs und die Einschätzung der Risiken der Wiederaufarbeitung nicht dem neuesten Erkenntnisstand entsprechen. Wir fordern deshalb rasche Schritte, um die ökonomische Privilegierung der Atom-energie zu beenden: unabhängige Verwaltung der Entsorgungsrückstellungen, weitere deutliche Erhöhung der Deckungsvorsorge gegen Atomunfälle, Sicherheitsstandards nach dem neuesten Stand der wissenschaftlich-technischen Erkenntnisse und ein schnellerer Ausstieg aus der Wiederaufarbeitung. Diese Schritte werden die Nutzung der Atomenergie wirtschaftlich noch unattrak-tiver machen, so dass die Meiler deutlich schneller vom Netz gehen. Wie eine Studie der Universi-tät Kiel im Auftrag von Greenpeace gezeigt hat, hat der Atomausstieg selbst an den AKW-Standorten positive Beschäftigungseffekte, wenn dort rechtzeitig alternative Energietechnologien angesiedelt werden.

Parallel dazu muss die Energiewende eingeleitet werden. Vorrangig muss der Anteil erneuerbarer Energien und der Kraft-Wärme-Kopplung bis 2010 verdoppelt, Stein- und Kohlekraftwerke auf Biomassezufeuerung umgerüstet und die Energieeinsparung durch Förderprogramme zur Wärme-dämmung an Gebäuden, zum ökologischen Bauen, zur Ersetzung elektrischer Nachtspeicherhei-zungen und durch flächendeckende Anwendung der Integrierten Ressourcenplanung beschleunigt werden.

Zukunftsfähiges Wirtschaften heißt: Aus einer Vielfalt von Einzelmaßnahmen muss sich perspektivisch ein neues ökologisches Regime konstituieren. Es geht um die Neuorientierung auf ein öko-nomisches Leitbild der Zukunftsfähigkeit, das durch staatliche Rahmensetzung schrittweise realisiert werden kann:

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Den verstärkten Einsatz produktionsintegrierter Umweltschutztechnologien zur Erhöhung der Energie- und Ressourceneffizienz (u.a. durch Energierückgewinnung aus industriellen Prozessen).
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Eine Strategie zur Reduzierung der Stoffströme über die nächsten 50 Jahre um 90 Prozent (d.h. die Erhöhung der Ressourceneffizienz um den Faktor 10).
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Durchsetzung geschlossener Stoffkreisläufe durch ein gezieltes Stoffstrommanagement (z.B. Wasserverwertung in der Industrie, Recyclingverfahren bei Lackierungen und Reini-gungsanlagen, Abfall-, Entsorgungs- und Aufbereitungswirtschaft etc.).
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Ganzheitliche Produktpolitik und -nutzung, die auf eine längere Nutzungs- und Lebensdauer von Produkten zielt und die Produktverantwortung verändert (Verkauf von Nutzen statt von Gütern, öko-effiziente Dienstleistungen).
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Entgiftung von Produktion und Produkten: So gasen z.B. krebserregende Flammschutzmit-tel aus Computern aus, fruchtschädigende Chlorparaffine lecken aus Dichtungsmassen, hormonell wirksame Phthalate verdampfen aus Weich-PVC. Andere Chemikalien wie Pes-tizide oder schwer abbaubare Waschmittelbestandteile belasten Grundwasser und Flüsse. Sanfte Biotechnologien, Pflanzenchemie und Bionik sind Alternativen, die durch eine ent-sprechende Produktzulassungs- und Produkthaftungspolitik als Alternativen stark gemacht werden müssen.
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Eine drastische Reduzierung der Verkehrsströme durch einen Umbau der Siedlungsstruk-turen sowie eine Politik der Verkehrsvermeidung und Entschleunigung.

Die reichen Staaten des Nordens sind nach wie vor die Umweltkiller Nummer eins. Europas Regierungen beschwören eine "neue Ökonomie", doch sie setzen in ihrer Innovationspolitik fast aus-schließlich auf Gen- und Informationstechnologien. Eine wirklich neue Ökonomie muss hingegen zukunftsfähig sein. Die Informationstechnologien können nur dann zu massiv reduziertem Res-sourcenverbrauch beitragen, wenn wir eine ungiftige Informationstechnik und nachhaltige Nutzungskonzepte entwickeln. Eine wirkliche Dematerialisierung der Wirtschaft wird eine stärkere Regionalisierung erfordern und (örtliche) Dienstleistungen im Wirtschaftsprozess begünstigen. Damit schwächt sich der globale Wettbewerbsdruck erheblich ab: eine Reparatur, einen Kindergarten, oder die Dienstleistung eines Werkzeugverleihs kann man nicht importieren, da sie an Ort und Stelle erbracht werden müssen. Gerade die Gewerkschaften, die häufig in den Branchen mit be-sonders hohen ökologischen Folgeschäden ihre organisationspolitische Basis haben, sind gefor-dert. Das gilt für die chemische Industrie, für die Kraftwerksbetreiber wie für die Automobilindustrie. Aber die Herausforderungen sind breiter, wie eine auf Zukunftsfähigkeit orientierte Automobilpolitik deutlich macht. Hier müssen die Konzepte einer ökologischen Modernisierung in Richtung "Mobili-täts-Unternehmen" weiterentwickelt werden, um vorhandene Kompetenzen stärker als bisher z.B. in den Bereich des öffentlichen Personen- und Lastennahverkehrs zu lenken.

Es ist durch verschiedenste Untersuchungen hinlänglich belegt, dass der ökologische Struktur-wandel sich per Saldo positiv auf die Arbeitsplatzbilanz auswirkt. Eine Energiewende in Deutsch-land könnte nach Berechnungen der Fraunhofer-Gesellschaft ca. 500.000 zusätzliche Arbeitplätze schaffen. Würden die Kapazitäten der Bahn und des öffentlichen Personennahverkehrs statt wie in den Planungen der Bundesbahn zusammengestrichen durch eine Verkehrswende vervierfacht, entstünden in Deutschland 600.000 zusätzliche Arbeitsplätze. Die IG BAU und Greenpeace rech-nen in einer gemeinsamen Projektstudie vor, dass durch gezielte Investitionen in Wärmedämmung und Gebäudesanierung rund 400.000 neue Arbeitsplätze entstehen können.

Ökologischer Landbau benötigt zwischen 11-30% mehr Arbeitskräfte als die heutige industrialisierte Landwirtschaft. Zukunftsfähigkeit und Beschäftigungsaufbau könnten so Hand in Hand gehen.

Projekt 3: Zukunftsfähiges Wirtschaften erfordert eine drastische Verminderung der Stoff- und Verkehrsströme und die Entgiftung der Ökonomie. Wir fordern eine Politik für den öko-logisch-solidarischen Umbau der Industriegesellschaft: Atomausstieg und solare Energie-wende, Chemiewende, ökologische Abfall- und Kreislaufwirtschaft, Verkehrswende und verkehrsvermeidender Umbau der Siedlungsstrukturen, ökologischer Landbau und intelli-gente Regionalisierungsstrategien. Der ökologische Umbau leistet einen Beitrag für mehr und nachhaltige Beschäftigung. Von ökoeffizienter Produktion und ökoeffizienten Dienstleistungen profitieren IndustriearbeiterInnen, IngenieurInnen und TechnikerInnen gleicher-maßen. Ökologisch-sozial-kulturelle Dienstleistungen, solare Rohstoffe und ökologische Agrarpolitik erschließen auch ein großes Arbeitsplatzpotenzial für gering Qualifizierte mit sozialer Absicherung und existenz-sichernden Einkommen. Dies fordern wir als Alternative zum Ausbau eines Niedriglohnsektors.

4. Ausbau sozialer Teilhaberechte
Schließlich gilt es, eine Basisprämisse moderner Wohlfahrtstaaten erneut mit Leben zu füllen. Die gleichberechtigte Wahrnehmung politischer Freiheitsrechte und formeller Chancengleichheit hat die Durchsetzung "sozialer Bürgerrechte" zur Voraussetzung, bedarf sozialer Sicherheit und der Kompensation sozialer Diskriminierungen.
Um den Sozialstaat zukunftssicherer zu machen, bedarf es verschiedener konkreter Einzelmaßnahmen, u.a.:

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Die Einführung einer Arbeitsmarktabgabe für alle, die derzeit nicht in die Arbeitslosenversiche-rung einzahlen, um eine aktive Arbeitsmarktpolitik gerade auch im Kontext eines Dritten Non-Profit-Sektors zu unterstützen.
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Einführung einer bedarfsorientierten sozialen Grundsicherung als Schutz vor Einkommensarmut für alle, die nicht über ausreichendes Einkommen oder Vermögen zur Sicherung eines men-schenwürdigen Lebens in der Gemeinschaft verfügen
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Die Rentenversicherung muss durch Einbeziehung weiterer erwerbstätiger Bevölkerungskreise wie Freiberufler, Selbständige und Beamte sowie volle Beitragszahlungen für Arbeitslose ge-stärkt werden. Dadurch werden alle Erwerbstätigen und Arbeitslosen besser abgesichert und die Erosion der Finanzierungsbasis durch den wachsenden Anteil nicht beitragspflichtiger Ein-kommen gestoppt.
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Um die Sozialkassen beim Aufbau Ost zu entlasten, ist im Rahmen eines befristeten Lasten-ausgleichs eine Abgabe auf Großvermögen zu erheben.
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Die Einführung einer Wertschöpfungsabgabe zur Ergänzung der lohnbezogenen Beitragsfinanzierung, um dem Rückzug der Arbeitgeber aus ihrer Finanzierungsverantwortung durch die "Entkoppelung von Wachstum und Beschäftigung" oder Rationalisierungsmaßnahmen zu begegnen und die arbeitsmarktbedingten Einnahmeausfälle der Sozialversicherung zu kompensieren.


Eine neue soziale Reformpolitik steht auch vor der Herausforderung einer nach wie vor nicht überwundene Abhängigkeit des Gesundheitsstandes von der sozialen Position in der Gesellschaft. Der von vielen gerne ins 19. Jahrhundert verwiesene Slogan "Wenn du arm bist, musst du früher ster-ben" beschreibt leider auch noch die gesellschaftliche Realität zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Nach wie vor werden die Chancen auf ein gesundes Leben in erheblichem Maße über den sozia-len Status verteilt. Aber nicht nur diskriminierte Lebenslagen, wie sie z.B. mit Arbeitslosigkeit ver-bunden sind, erhöhen das Risiko gesundheitlicher Schäden, auch die Arbeitswelt trägt unverändert durch belastende Arbeitsbedingungen zu vorzeitigem Gesundheitsverschleiß bei. Hier wird der ho-he Stellenwert einer präventiven, auf vorsorgende Risikovermeidung gerichteten (Sozial-)Politik (im Sinne der Vermeidung von Arbeitslosigkeit und der Beseitigung gesundheitsschädigender Arbeits-belastungen) für eine Strategie solidarischer Verteilung von Lebenschancen deutlich. Um eine soli-darische Finanzierung bei moderaten Beitragssätzen sicherzustellen, fordern wir die Aufhebung der Versicherungspflichtgrenze in der Gesetzlichen Krankenversicherung und die Einbeziehung aller Einkommensarten.

Auch im Bildungsbereich war der Zusammenhang zwischen sozialem Status und Bildungschancen stets von besonderer Bedeutung. Heute ist der Anteil von Studierenden aus sozial schwächeren Schichten wieder auf das Niveau vor der sozial-liberalen Bildungsreform der 70er Jahre gesunken. Diese Rückkehr der Klassenspaltung in das Bildungssystem bedarf dringend der Korrektur. Nicht nur, weil ein hohes Bildungs- und Ausbildungsniveau als Produktivkraft an Bedeutung gewinnt; sondern vor allem, weil eine soziale und demokratische Gesellschaft ohne das Menschenrecht auf Bildung zum Scheitern verurteilt ist. Das erfordert eine bedarfsorientierte und existenzsichernde, el-ternunabhängige Ausbildungsförderung als materielle Basis für einen gleichberechtigten Zugang zu allen Bildungsangeboten. Die Einführung von Studiengebühren und die Privatisierungstenden-zen im Bildungswesen sind reaktionäre Maßnahmen, zielen sie doch letztlich darauf ab, klassen-spezifische Selektionsmechanismen und letztlich auch geschlechtsspezifische Diskriminierungen wieder zu verstärken. Jenseits sozialer Herkunft muss Bildung als unverzichtbare Ressource indi-vidueller und sozialer Persönlichkeitsentwicklung anerkannt und entsprechend in der Prioritäten-skala einer sozialen Reformpolitik plaziert werden. Um eine qualifizierte und auswahlfähige Ausbil-dung für alle Jugendlichen gewährleisten zu können und die Kosten der Ausbildung gerecht zu ver-teilen, fordern wir die Einführung einer Umlagefinanzierung der beruflichen Bildung.

Neuverteilung sozialer Teilhaberechte muss sich aber auch auf das Verhältnis der Geschlechter beziehen. Nach wie vor harren die modernen Gesellschaften - trotz aller Individualisierungsten-denzen - der notwendigen alltagskulturellen Revolution, die das Aufbrechen der tradierten Rollen-bilder und -zuweisungen bedeuten würde. Der vielfach analysierte Formwandel der modernen Fa-milie ist bisher kaum mit einer realen Gleichstellung der Geschlechter einhergegangen. Eine re-formorientierte Sozial- und Gesellschaftspolitik kann hier zumindest die Voraussetzungen verbes-sern. Dazu bedarf es erstens der Schaffung einer gesellschaftlichen Infrastruktur, die das Angebot einer Entprivatisierung der Reproduktions- und Familienarbeit bereitstellt. Es geht um die Verbes-serung der materiellen Voraussetzungen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie - für Männer und Frauen. Ergänzt werden muss dies zweitens durch Strategien einer positiven Diskriminierung von Frauen in der Arbeitsmarktpolitik. Dies reicht von der Beseitigung Frauen benachteiligender Regelungen im Leistungsrecht der Sozialversicherung bis hin zu möglichen Quoten in der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Schließlich wäre drittens die Reform der Arbeits- und Sozialverfassung auf der Grundlage eines neuen Normalarbeitsverhältnisses zu nennen.

Soziale Teilhabe für alle muss Grundlage der weiteren Entwicklung der Dienstleistungen werden. Es geht, um es zumindest in Stichworten anzudeuten, um die Neugestaltung von Ausbildung und Arbeitswelt, die die Feminisierung der Erwerbsarbeit fördert, es geht um die Erneuerung des Sozialstaats und die Förderung eines gemeinnützigen "Dritten Sektors" (mit einem egalitären Angebot qualifizierter Dienstleistungen), um die Perspektive nachhaltiger Entwicklung (ökoeffiziente Dienst-leistungen) und um die Perspektive einer demokratischen "Informationsgesellschaft (mit nutzen-orientierten Dienstleistungskonzepten im IT-Bereich, freie Software für Internet und Multimedia, neue Eigentumskonzepte statt die warenförmige Verdinglichung von Information).

Projekt 4: Im Zentrum der Auseinandersetzungen um die Zukunft des Sozialstaates steht aktuell der Umbau der gesetzlichen Rentenversicherung. Ihre schrittweise Privatisierung wird teurer als jede solidarische Reform, minimiert nicht, sondern verstärkt die materielle Unsicherheit im Alter. Mehr noch: Der Abbau solidarischer zugunsten privater Alterssiche-rung bedeutet letztlich einen Dammbruch für die Durchsetzung eines marktradikalen Sha-reholder-Kapitalismus. Wir fordern eine Rentenreform, die den Grundsatz der Lebensstan-dardsicherung umsetzt (statt die Rentenniveaus senkt), an der paritätischen Finanzierung festhält (statt das Kapital entlastet), und Rentenversicherung schrittweise auf alle Erwerbs-tätigen ausdehnt. Die solidarische Alternative zur Privatisierung ist die perspektivische Durchsetzung einer allgemeinen Volksversicherung.


III. Heraus aus der Zuschauerdemokratie

Vorrangige Aufgabe ist es, die Verständigung über Eckpunkte und Essentials einer neuen sozialen Reformstrategie zu fördern und die dafür in der Gesellschaft vorhandenen Potenziale zu bündeln. Politische Alternativen in dieser Republik durchzusetzen erfordert eine breite soziale Bewegung, die sich weder an der "Parteifrage" orientiert, noch auf einzelne politische Themen- und Hand-lungsfelder beschränkt ist. Entscheidend ist, die unterschiedlichsten Menschen in ihren Bestrebun-gen zu bestärken, dass sie selbst etwas tun und sich mit anderen über gemeinsame Ziele austau-schen. Wenn sie weder von der rot-grünen neuen Mitte noch von einer sich aus dem Spenden-sumpf wieder hochziehenden CDU/CSU über den Löffel barbiert werden wollen, müssen sie sich schon selber und zwar gemeinsam wehren, statt zu resignieren.

Die verschiedenen, häufig an Einzelthemen orientierten Politikansätze in der Bundesrepublik stehen vor einer wichtigen Frage: entweder sie beißen sich vereinzelt mit ihren jeweils schwachen Kräften an der herrschenden politischen Klasse die Zähne aus, oder sie versuchen, aus ihren je-weiligen Blickwinkeln Gemeinsamkeiten mit anderen Initiativen zu finden und gemeinsame Strate-gien und Aktionen zu entwickeln.
Das Potenzial zum Aufbau neuer starker zivilgesellschaftlicher Strömungen, die auf gemeinsamen Interessen von Frauen, MigrantInnen, Arbeitslosen, neuen ArbeitnehmerInnen, prekär Beschäftig-ten und so genannten neuen Selbständigen gründen, ist durchaus vorhanden. Die politische Kunst wird darin liegen, diese Interessen so miteinander zu verknüpfen, dass eine wahrnehmbare, attrak-tive plurale gesellschaftliche Strömung wider den herrschenden Zeitgeist entsteht, die Unzufrie-denheit in Engagement für politische Alternativen umwandeln kann.

 

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