LDK Soest 18.-20.02.2000
Daniel Kreutz

Redemanuskript zur Programmdebatte (Präambel)

Grüne neigen noch immer dazu, sich selbst als die Kraft der Veränderung, der Reform, gegenüber den Kräften der Erstarrung, des Stillstands zu definieren. Dabei wird übersehen, dass die Frage, vor die unsere Gesellschaft spätestens mit den globalen Veränderungen der Weltordnung und der deutschen Vereinigung gestellt wurde, nicht mehr die Frage von Stillstand oder Veränderung ist, sondern nur noch die Frage, wohin Veränderung. Das alte System des rheinischen Kapitalismus der Bonner Republik ist unwiderbringlich Geschichte. Jetzt geht es darum, in welcher
anderen Sorte Gesellschaft wir künftig leben wollen.

Geht es in Richtung ökologischer Nachhaltigkeit, von Frieden und sozialer Gerechtigkeit, in Richtung von Emanzipation derer, die durch Machtverhältnisse und strukturelle Gewalt an ihrer freien Entfaltung gehindert werden - geht es in diese Richtung, oder geht es in jene andere Richtung, die man als "neoliberal" kennzeichnet? Das ist heute die Frage - in Deutschland und in Europa.

Die Frage nach dem Gesellschaftssystem der Zukunft ist aufgeworfen nicht von einer hegemonial gewordenen sozial-ökologischen Reformbewegung, sondern von einer hegemonialen Bewegung der wirtschaftlich Starken. Ihr Ziel heißt:
Noch mehr wirtschaftliche Macht gegenüber den anderen und dem Rest der Welt; noch größere Stücke am noch ungerechter verteilten Kuchen. Die Neoliberalen in der Politik bilden gleichsam den überparteilichen politischen Arm
dieser Bewegung.

Fortschrittliche Errungenschaften aus der Vergangenheit, die wir als Grundlage zukunftsfähiger Weiterentwicklung bewahren müssen - darunter auch solche, die sich den historischen Lehren aus der Katastrophe von Weimar
verdanken - werden von der neoliberalen Revolution untergepflügt. Wer dagegen aufsteht, gilt heute als Konservativer, als Traditionalist, als Auslaufmodell.

Der Verfassungsgrundsatz von der Sozialpflichtigkeit des Eigentums gilt als Gruselnummer aus dem sozialistischen Museum. Das alte Bekenntnis zur "freiheitlich-demokratischen Grundordnung" als Eintrittskarte zur "seriösen" Politik wurde praktisch ersetzt durch das Bekenntnis zu den Kampfthesen der Modernisierer: Der Wirtschaftsstandort muss fit gemacht werden für den Sieg im globalen Wettbewerb, Arbeit muss billiger werden, der Sozialstaat muss billiger werden, der Staat überhaupt muss sich auf Kernaufgaben konzentrieren und zurücknehmen. Wer solche Prämissen nicht teilt, gilt heute ebensosehr als Spinner wie diejenigen, die vor 20 Jahren die Grünen gründeten. Wer schnell erfolgreich sein will, ist im Lager der Modernisierer sicher besser aufgehoben.

Die politische Präsenz derer, die die neoliberale Antwort auf das Wohin wegen Zukunftsunfähigkeit ablehnen - also der SpinnerInnen, TraditionalistInnen, Gerechtigkeitsapostel, SozialromantikerInnen und Ökopaxe verschiedener Couleur - bewegt sich noch auf beklagenswertem Niveau.
Wir sind nicht mal in einer ernstzunehmenden Defensive, obwohl nur da hindurch die Offensive erreichbar werden kann.

Doch erneut fällt dieser bunten Narrenschar die Aufgabe zu, an einem alternativen Projekt zukunftsfähiger Gesellschaft zu arbeiten. Nur mit einer solchen Perspektive kann man es mit den Anderen aufnehmen. Nicht Anpassung an den Zeitgeist, nicht pragmatische Beschränkung auf die Rolle des Lazaretts im Kriege, auf den Fahrradweg am Rand des Dritten Weges von Schröder und Blair ist heute gefragt, sondern alternatives Vollprogramm!

Der vorliegende Entwurf weiß von alldem nichts. Aber wer die Herausforderungen der Realität nicht kennt, kann auch keine zukunftsfähige Politik machen.

(Anrede)

Die Hegemonie des Neoliberalismus hat den Regierungswechsel im Bund nicht nur überdauert, sondern sie ging gestärkt daraus hervor.

Wir können bei Rot-Grün in Bund und Land keinen Beitrag zur zukunftsfähigen Gesellschaft erkennen, im Gegenteil. Nach wenigen Monaten der Hoffnung bekamen wir die erste militärische Beteiligung Nachkriegsdeutschlands an
einem Angriffskrieg und ein beispielloses Sparprogramm zu Lasten der Erwerbslosen und RentnerInnen. Es kommt eine beispiellose Steuerentlastung für Arbeitgeber, die im Unterschied zu Erwerbslosen und Rentnerinnen von der
sogenannten Ökosteuer kaum belastet wurden. Der unter Kohl mit Hilfe unerträglicher Missbrauchsdebatten vollzogene Wechsel von der Bekämpfung der Armut zur Bekämpfung der Armen, von der Bekämpfung der Erwerbslosigkeit zur Bekämpfung der Erwerbslosen wird durch den Kurs auf Pflichtarbeit im Niedriglohnsektor bei Strafe des Entzugs der Existenzgrundlage vorangetrieben. Es wird ein Systemwechsel in der Alterssicherung - und
wie's aussieht auch in der Sozialhilfe - vorbereitet, der nicht zu mehr, sondern zu weniger sozialer Gerechtigkeit führt.

Die Gewerkschaften stehen unter hohem politischem Druck, per Tarifvertrag den Flächentarifvertrag schleifen zu lassen und mit Lohnzurückhaltung die Arbeitgeber zu bedienen.

Derweil boomt der shareholder value und die Konten der Vermögensbesitzer wachsen im Jahresdurchschnitt um das 15fache der Ausgaben für Sozialhilfe zum Lebensunterhalt.

Der Abbau staatlicher Regulierung und der marktförmige Umbau der öffentlichen und sozialen Infrastrukturen bahnt nicht der Freiheit einen Weg, sondern dem Faustrecht der am Markt Stärkeren.

Es droht ein Atomkonsens, der den AKW-Betreibern vorerst garantierte Laufzeiten sichert und dafür ihr Entsorgungsproblem entschärfen will.

Ich will die Liste der entsetzlichen Botschaften aus Berlin nicht fortsetzen. Es ist wohl deutlich geworden, dass Rot-Grün nach unserer Überzeugung zu einem gewichtigen Teil des Problems geworden ist.

(Anrede)

Hinsichtlich sozialer Gerechtigkeit ist es enorm beunruhigend, dass die SPD aufgehört hat, sozialdemokratisch zu sein. Die Partei der Neuen Mitte hat sich gänzlich von ihrer Bindung an die Interessen der kleinen Leute, an Kollektivinteressen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gelöst. Der Unterschied zu Union und Liberalen liegt praktisch nicht mehr in den Zielen, sondern nur noch in den Methoden. Diese Mutation der SPD birgt weit schwerwiegendere Risiken als das, was mit den Grünen passiert ist.

Aber das mit den Grünen ist auch nicht ohne: Sie drücken heute die SPD überwiegend von der anderen Seite und in die andere Richtung als früher.
In der Steuer- und Rentenpolitik ziehen sie teils mit der CDU an einem Strang gegen den Rest an sozialen Kräften in der SPD und im eigenen Laden. Grüne erklärten die Vermögenssteuer zur Neidsteuer. Unter dem religiösen
Banner der "nachhaltigen Finanzpolitik" wollen sie die Prätorianergarde der Sparpolitik sein. Sie haben sich sowohl in der moralischen Rechtfertigung des Bombenkriegs gegen Jugoslawien als auch in der Zurückweisung sozialer
Kritik an Eichels Sparpaket von niemand übertreffen lassen. Sie wollen Motor der kapitalistischen Modernisierung sein, aber den Wirtschaftsliberalismus moderner verpacken als die Altliberalen.

Die Koalition in Düsseldorf, für deren Fortsetzung Ihr auf der Straße werben sollt, war Modell für den Bund. Es ist kein Zufall, dass der Vordenker der Neuen Mitte und Ghostwrighter des Schröder/Blair-Papiers Bodo Hombach
aus NRW war. Hier wurde Rot-Grün als Träger des Neuen Mitte-Kurses erfolgreich erprobt und man sah, wie mit Beihilfe des grünen Mitte-Rechts-Blocks selbst starke grüne Widerstände im Koalitionsschraubstock zu knacken waren.

Man konnte alle notwendigen Genehmigungsschritte für Garzweiler II zustandebringen, im Luftverkehr die Weichen auf Expansion stellen, eine Gentechnik-Offensive stattfinden lassen, mit der Call-Center-Offensive Outsourcing und Tarifflucht fördern und den Schutz des arbeitsfreien Sonntags schwächen. Man konnte den Umbau der Arbeitsmarktpolitik zur Dienstleistung für Arbeitgeber einleiten, im Bündnis für Arbeit den modellhaften Einstieg in die Niedriglohn-strategie organisieren, und mit Fördern und Fordern dafür werben, dass Erwerbslose, die Pflicht-arbeit
verweigern, ihr Recht auf ein menschenwürdiges Leben verwirken. Man konnte den Konsens mit Herrn Beckstein in Bayern als Maßstab der Flüchtlingspolitik halten. Man kann im Namen von Markt und Wettbewerb die
Errungenschaften sozialdemokratischer Hochschulpolitik schleifen und die Öffnung für Studiengebühren stattfinden lassen. Eine Reform des Bildungsurlaubsgesetzes im Konsens mit der Wirtschaft steht an.

Man konnte die neue Bundesregierung von rechts unter Druck setzen, bei den 630-Mark-Jobs, für die Vernichtung des Ladenschlussgesetzes, für Steuerentlastungen für die Wirtschaft oder für den Schutz der Braunkohle.
Die Achse Clement-Stoiber hat bundesweiten Ruf. Für unsere Landtagsfraktion dagegen ist jeder Müll aus Berlin sakrosankt - für die einen, weil sie den wollen, für die anderen, weil die Tonne rot-grün ist.

Auch das ist rot-grüne Wirklichkeit.

Ich bitte um Verständnis, dass diejenigen von uns, die solche Wahrnehmungen teilen, äußerste Zurückhaltung gegenüber der Vorstellung verspüren, sich für ein Weiter so auf die Straße zu stellen.

Der Film, den der Programmentwurf und ganz besonders die Präambel abspielt, ist weder Reportage noch Science Fiction, sondern drittklassige Phantasy. Ganze Passagen sind original Clement'sche Schaumschlägerei, aufgeblasenes
Wortgeklingel, in dem die kritische Vernunft nach definierbaren Inhalten fahndet, sich aber erschreckt, wenn sie welche findet. Beispiele:

Der Präambel-Abschnitt Erwerbslosigkeit bekämpfen weiß nichts mehr von Arbeitszeitverkürzung oder Arbeitsmarktpolitik. Erwerbslosigkeit bekämpfen heißt jetzt konsequente Mittelstandspolitik.

Der Abschitt zum Bildungswesen weiß nichts mehr von Bildung als Bedingung demokratischer Emanzipation. Es geht um Ausbildung für die Wirtschaft und die Produktion von Unternehmern.

Der Abschnitt zur demokratischen Kultur weiß nichts mehr davon, dass Demokratie aufhört, wo Wirtschaftsmacht anfängt, nichts von der Entmündigung der MigrantInnen, nichts von sozialer Bewegung. Dafür findet hier das
Bekenntnis zur WestLB statt.

Zielmarke demokratischer Teilhabe soll die bayerische Kommunalverfassung sein.

Zukunftsfähigkeit wird vor allem übersetzt mit konsequenter Sparpolitik. Die Schlüsselfrage der Umverteilung des gigantisch privatisierten Reichtums oder selbst Öko-Abgaben sind kein Thema mehr.

Der Sozialstaat ist nicht mal mehr der Erwähnung wert.

Wenn Ihr dieses Programm mit dieser Präambel beschließt, dann vollzieht Ihr die Gründung einer neuen Partei, die sich für den Motor neoliberaler Modernisierung des Kapitalismus in Nordrhein-Westfalen hält, und vor allem
anderen dafür wirbt, dass sie an der Regierung bleiben darf. Damit kann man die Attraktivität praktisch aller anderen Optionen, die man heute zur Verfolgung grüner Ziele haben kann, deutlich steigern.

Aber es liegt Euch zur Präambel auch eine Alternative vor. Über die mag man im Einzelnen streiten, aber sie hat den großen Vorzug, ungleich näher an der Wirklichkeit und ungleich grüner zu sein.

Daniel Kreutz