Süddeutsche Zeitung

08.11.99

Des Kanzlers Angst vor der Bruchstelle

Keine Chancen mehr auf einen Konsens bei der Kernenergie

Politische Rücksichtnahmen lassen Regierungschef Gerhard Schröder einknicken. Die Brücken sind abgebrochen, die Hoffnung auf einen Konsens in der Frage des Ausstiegs aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie begraben. Dies sagt zwar derzeit niemand vor laufenden Kameras, aber es findet sich auch niemand, der es dementieren will. Beide Seiten haben in vielen Runden eines ganz deutlich herausgearbeitet: dass in der Frage der Ausstiegsgeschwindigkeit kein Weg zueinander führt. Nun wird die rot-grüne Bundesregierung bis zum Jahresende ein Gesetz vorlegen, das die strittigen Punkte regelt, und die Betreiber der Kernkraftwerke werden in Karlsruhe dagegen klagen.

Dabei hatten die Beteiligten sich früher im Jahr einem Kompromiss schon einmal ganz nahe gewähnt. Im Juni legte Bundeswirtschaftsminister Werner Müller ein Papier mit den Eckdaten für einen Ausstieg vor, das er zusammen mit den Stromkonzernen ausgearbeitet hatte. Darin gab es noch einen einzigen strittigen Punkt, und der betraf ebenfalls die Laufzeiten der Reaktoren. In dem Papier war von 35 Jahren die Rede, nur ging Müller von Kalenderjahren aus, wogegen die Betreiber Volllastjahre festgeschrieben haben wollten, das heißt echte Betriebsjahre ohne Berücksichtigung der Stillstandszeiten. Noch ehe die Parteien jedoch eine Lösung in diesem Punkt suchen konnten, kam vom grünen Koalitionspartner das Signal, eine solche Laufzeit-Regelung sei unannehmbar. Auf der Zehnerstelle müsse unbedingt eine Zwei stehen, so hieß es, eine Forderung, die von den Kontrahenten nicht akzeptiert wurde.

Hoffnung Europa
Auf diesem Stand schleppten sich die Gespräche seither dahin. Dass die Betreiber der Kernkraftwerke jetzt zumindest inoffiziell das Scheitern erklärt haben, liegt vor allem an dem für sie erkennbarem veränderten politischen Klima. Ausschlaggebend dabei ist für sie, dass der Kanzler einen Schwenk vollzogen hat, der für die Stromerzeuger jede Hoffnung auf eine vermittelnde Rolle von Gerhard Schröder zunichte gemacht hat.

Vorbei sind die Zeiten, in denen Schröder seinen Umweltminister Jürgen Trittin für dessen forsche Verhandlungsgangart öffentlich rügte, ihn gar von Gesprächen mit den Atom-Bossen ausschloss. In letzter Zeit hat sich Trittin wieder zurückgemeldet, der parteilose Minister Müller gilt angesichts ein er fehlenden Hausmacht als ausgebootet. Und Schröder selbst, der einmal den Eindruck erweckte, als wolle er die Frage des Ausstiegs zur Chefsache machen, hat sich offenbar entschieden, Trittin wieder auf harten Konfliktkurs gehen zu lassen.

Beobachter in Berlin erklären diesen Sinneswandel des Kanzlers keineswegs mit einer veränderten Einstellung in dieser Frage, sondern allein mit dem miserablen Zustand der Koalition. Nach all den Zumutungen von Seiten des Regierungschefs, die die Grünen in ihrem Selbstwertgefühl tief getroffen haben, droht nun der Kernkraft-Ausstieg zur Bruchstelle für die Koalition zu werden, wenn die Grünen hier nicht einen erkennbaren Erfolg erzielen und sich mit wesentlich kürzeren Laufzeiten durchsetzen.

Nachdem klar ist, dass sich diese auf dem Verhandlungsweg nicht erreichen lassen, ist man nun offensichtlich entschlossen, sie in ein Gesetz zu schreiben. dass die Stromkonzerne postwendend Klage gegen das Gesetz beim Bundesverfassungsgericht erheben werden, nimmt man billigend in Kauf. Denn jede rmann weiß, dass ein solches Verfahren Jahre dauern wird - Jahre, in denen man sich stets auf die Entschlossenheit der Regierung berufen kann, der Kernkraft ein zügiges Ende zu bereiten.

Die deutliche Verschiebung der politischen Gewichte von Rot zu Grün in der Ausstiegsfrage glaubt man in der Strombranche auch an anderen Punkten feststellen zu können. Zu Jahresbeginn hat der Kanzler den Strommanagern zugesagt, keine "Verstopfungsstrategie" zu betreiben, indem man Transporte in Zwischenlager oder zur Wiederaufarbeitung nicht genehmigt. In der Verweigerung bis zum heutigen Tag, die nach den Worten des Präsidenten des Atomforums Otto Majewski auf der Basis der eingereichten Unterlagen rechtswidrig ist, erkennt man auch Trittins Handschrift, ebenso in der Überlegung, den Brennstoff für die Reaktoren mit einer Sondersteuer belegen zu wollen, die im Jahr rund vier Milliarden DM ausmachen und die Wettbewerbsfähigkeit der Kernenergie schmälern würde.

Dieser Verhärtung auf der politischen Seite versucht man bei der Stromerzeugern mit einer Strategie zu begegnen, die sich nicht allein auf die deutsche Gerichtsbarkeit stützt. Derzeit laufen Erkundungen, welche Chancen ein Gang nach Brüssel eröffnet. Eine europäische Dimension erhält das Problem spätestens dann, wenn die französische Electricité de France (EdF) sich wie erwartet an Energieversorgung Baden-Württemberg (EnBW) beteiligt. Werden nämlich in den nächsten Monaten keine Transportgenehmigungen erteilt, dann müssen zwei Kernkraftwerke der EnBW mangels Lagerkapazitäten stillgelegt werden. Schlecht vorstellbar, dass die Franzosen, die für gut 25 Prozent an EnBW etwa fünf Milliarden DM auf den Tisch legen müssen, dies dann widerspruchslos hinnehmen werden.


Helmut Maier-Mannhart