Kolumne im Neuen Deutschland (16.10.99)

Der Mythos vom starken Mann
Angelika Birk
Ministerin für Frauen, Jugend, Wohnungs- und Städtebau des Landes Schleswig-Holstein

In Umbruchszeiten wächst die Sehnsucht nach Mythen, denn Märchen ordnen die Welt bekanntlich immer in eine klare Dualität von oben und unten, von gut und böse. Am stärksten überzeugen dabei jene Märchenerzähler, die selbst an den Mythos glauben und ihn verkörpern. Und so haben Lafontaine und Schröder vorgeführt, dass es einfach auf Dauer nicht gut gehen darf, wenn zwei Hand in Hand siegen. Einer muss sich alsbald als Teufel herausstellen.

So richtig als "des Teufels Großmutter" beschreiben jedoch Grüne Königsmacher ihre weibliche "Doppelspitze". Nützlich waren sie noch in den Zeiten, als sie dem heimlichen Vorsitzenden Joschka Fischer im entscheidenden Moment die Flügel weit aufgespannt hielten und so der Dreieinigkeit Fischer, Schröder, Scharping unbeschadet die politische Lufthoheit bei der ersten Kriegsbeteiligung der Bundesrepublik sicherten.
Jetzt aber kämpfen viele einsame Wölfe um die Vorherrschaft im Rudel. Schließlich halten sie es alle für ein ungeschriebenes Gesetz, dass Parteien von einem starken Mann geführt werden. Politisch korrekt nennen sie Frauen immer mit, aber wenn es darauf ankommt, dann regiert trotz aller demokratischer Gepflogenheiten ein männlich-feudalistisches Lehenswesen die Dynamik von Parteien, Fraktionen und Regierung. Und auch Medien und Wählergunst scheinen vor allem jene männlichen Helden mit Aufmerksamkeit und Zustimmung zu belohnen, die sich als Star für mediengerechte Seifenopern eignen.

Doch für Teamarbeit gibt es inzwischen einen großen gesellschaftlichen Bedarf und auch in der Wirtschaft sind neue Führungsmodelle durchaus vorhanden. Kommunikationsfähigkeit oder soziale Kompetenz sind Qualitäten, die heute von jeder Führungskraft verlangt werden. Einhellig beschreibt uns die Wissenschaft, dass der autoritäre Chef, der
24-Stunden im Dienst ist und mit der Lebenswirklichkeit der Menschen nichts zu tun hat, den Herausforderungen des 21. Jahrhundert nicht mehr standhalten kann.

Doch während sich diese Erkenntnisse in der Wirtschaft erst langsam durchsetzen, neue Team- und Arbeitszeitmodelle höchstens in der zweiten Reihe ausprobiert werden, haben die Grünen bereits eine zwanzigjährige
Erfahrung damit. Sie haben neue Wege der politischen Entscheidungsfindung ausprobiert und damit - wie immer bei neuen Ideen - positive und negative Erfahrungen gemacht, untaugliches wie die strenge Rotation wieder abgeschafft, aber bewährtes wie die Doppelspitze oder die Frauenquote behalten. Führungsteams sind seit der Gründung geradezu ein Markenzeichen dieser Partei. Diese Maxime gilt nicht nur formal für die Parteistrukturen, sondern hat vor allem eine inhaltliche Entsprechung. Wer programmatisch die Teilung der Erwerbsarbeit zwischen den mit Überstunden belasteten Erwerbstätigen und den Erwerbslosen, zwischen Männern und Frauen, zwischen Jung und Alt propagiert, muss auch selbst die gleichberechtigte Teilung von Macht und Verantwortung in entscheidenden Positionen wagen.

Dieses Modell hat in Ansätzen durchaus auch auf andere ausgestrahlt. Im politischen Handeln gilt dieses Leitbild inzwischen offensichtlich für Parteien vor oder nach einer Regierungsphase. Folgerichtig präsentierte die CDU im Europawahlkampf Frau Merkel und Herrn Schäuble auf Plakaten als ein Team, das zwar oft unterschiedlicher Meinung ist, aber gemeinsam handelt - wenn auch noch in einem klar strukturierten Hierarchieverhältnis. Und so zeigt zum Beispiel der neue - von Merkel geprägte und von Schäuble tolerierte - Familienbegriff, dass auch die CDU erkannt hat, was die gesellschaftliche Mehrheit - d.h. insbesondere die weibliche - unter sozialer Gerechtigkeit versteht: Dass Fürsorge für Kinder und Alte nicht zum Ausschluss aus der Erwerbsarbeit und der Öffentlichkeit, nicht zu Überlastung und zu Armut führen darf. Vielmehr sollen sich soziale Gebundenheit und individuelle Freiheit miteinander vereinbaren können. Nicht nur die Ergebnisse des Wahlherbstes zeigen, dass solche Probleme nicht mehr ausgesessen werden können. Die Gestaltungsmacht der Regierung wird nicht durch das Beschwören von
Geschlossenheit entschieden, sondern durch eine gemeinsame inhaltliche Strategie.

Doch anstatt im Bewusstsein dieser Vorreiterfunktion gelassen auf die Modernität und Tauglichkeit ihres Führungsmodelles zu vertrauen und auf dieser Grundlage auch das inhaltliche Programm auf die Anforderungen des
21. Jahrhunderts anzupassen, diskutieren die Grünen mal wieder ihre Strukturen. Auch hier erliegen einige dem Mythos, dass in schweren Zeiten ein starker Mann her muss. Wenn in der Regierung - oder auch in einem Unternehmen - einer da ist, der letztlich die Verantwortung trägt, ist es - wenn etwas schief gehen sollte - ja auch leichter, ihm die ganze Schuld dafür zu geben, ohne nach der eigenen Verantwortung zu fragen, oder? Eine Campa jedenfalls, die stattdessen nur den guten Willen medial feiert, können sich die Grünen nicht nur finanziell nicht leisten. Sonst entpuppt sich die Diskussion um die Abschaffung der Doppelspitze am Ende als ein Mythos, der die notwendige inhaltliche Strategie verhindert hat.

Gez. Angelika Birk

Ministerin für Frauen, Jugend, Wohnungs- und Städtebau des Landes Schleswig-Holstein