Der Tagesspiegel vom 18. September 1999

Neue Doppelspitze bei den Gruenen?

 

1. - Ein Fuehrungswechsel bahnt sich an

2. Das letzte Aufgebot des Joschka Fischer (Leitartikel)

3. - "Wir haben nicht genug gruenes Profil" - ein Interview mit Claudia Roth ueber den Zustand der Partei und die Personalspekulationen

4. - Die Berliner Gruenen sind im Erklaerungsnotstand - wenn ihre Spitzenkandidatin wirklich in die Bundespartei wechselt

5. - Joschka Fischer nutzt die Zeit der Wahldebakel, um seine Vorstellung von der gruenen Parteizukunft durchzusetzen

6. - Gunda Roestel auf der Verliererstrasse - die Ruecktrittsgedanken der saechsischen Spitzen-Gruenen schon vor der Wahl

7. - Das Sprecheramt ist ueberlebt - und die Partei weiss es

 


1. Ein Fuehrungswechsel bahnt sich an

Joschka Fischer mischt sich ein und verschiebt wichtige Termine.

Wir interviewen Claudia Roth, MdB, ueber das Partei-Rumoren

Zwei Tage vor der Landtagswahl in Sachsen sind neue Personalspekulationen bei den Gruenen bekannt geworden. Angeheizt wurden sie durch einen Bericht der "Bild"-Zeitung. Nach Informationen des Tagesspiegels gibt es den Plan, die Vorstandssprecherinnen Radcke und Roestel durch den baden-wuerttembergischen Fraktionschef Kuhn und die Berliner Spitzenkandidatin fuer die Abgeordnetenhauswahlen, Kuenast, abzuloesen. Radcke und Roestel wiesen entsprechende Berichte am Freitag mit Nachdruck zurueck. Kuhn sagte indes, er schliesse nicht aus, irgendwann fuer die Parteispitze auf Bundesebene zu kandidieren, "wenn die Bedingungen dafuer gegeben sind".

Fuehrende Gruenen-Politiker bereiten sich in jedem Fall auf moegliche Konsequenzen aus dem Ergebnis der Sachsen-Wahl vor. Fuer Montag wurde der Parteirat nach Berlin geladen. An der Gremiensitzung wird erstmals auch Bundesaussenminister Joschka Fischer teilnehmen, der sich staerker in die Parteiarbeit einmischen will. Wegen der Bedeutung des Treffens verschob er sogar seinen Abflug zur UN-Vollversammlung um einen Tag.

Radcke trat Berichten ueber ihren Ruecktritt entgegen: "Bei uns herrschen demokratische Spielregeln. Wir lassen uns nicht von Parteifluegeln verordnen, wer an die Spitze kommt. Das entscheidet noch immer ein Parteitag", sagte sie dem Radiosender Berlin aktuell 93,6 am Freitag. Roestel sagte, die Spekulationen ueber einen Fuehrungswechsel seien "Unsinn". Dem Tagesspiegel sagte sie, eine Niederlage in Sachsen haette viele Vaeter und Muetter. "Die Gruenen haben nicht nur im Osten an Zustimmung verloren. Die Partei hat zu lange darauf vertraut, dass in bestimmten Waehlerschichten Gruen waehlen schick ist, aber das gilt nicht mehr", sagte Roestel. Interne Personalueberlegungen fuehrender Vertreter des gemaessigt linken und des Realo-Fluegels wurden dieser Zeitung allerdings bestaetigt.

Claudia Roth, die zum linken Parteifluegel gehoert und im Bundestag den Vorsitz des Ausschusses fuer Menschenrechte innehat, sagte im Interview mit dem Tagesspiegel: "Wir muessen ein Jahr Rot-Gruen im Bund ganz ernsthaft und unbeschoenigt bilanzieren. Das kann sich nicht reduzieren auf eine Personaldebatte oder eine Strukturdebatte." Gunda Roestel habe gesagt, sie werde die Verantwortung fuer ein enttaeuschendes Wahlergebnis uebernehmen. Roth dazu: "Es ist ungluecklich, dass sie damit selbst zu Personalspekulationen beigetragen hat."

Der Fraktionschef der baden-wuerttembergischen Gruenen, Fritz Kuhn, liess einerseits zwar keine Ambitionen erkennen, sofort in die Parteispitze zu wechseln, schloss andererseits aber einen Wechsel nach einer Strukturreform nicht aus.

Sollte Roestel dennoch ihr Amt niederlegen, wuerde das automatisch die Diskussion um die angestrebte Reform der Parteistruktur anheizen. Vor allem dem Realo-Fluegel um Joschka Fischer ist die traditionelle Trennung von Amt und Mandat ebenso wie die Doppelspitze ein Dorn im Auge. Kuhn forderte deshalb abermals "neue Strukturen in der Partei" einschliesslich Abschaffung der Doppelspitze. Angeblich planen die Gruenen zudem den Aufbau einer Wahlkampfzentrale nach SPD-Vorbild mit Bundesaussenminister Joschka Fischer als Chef.

In die Diskussion um ein schaerferes Profil der Gruenen haben sich auch die Parteilinken mit einem Strategiepapier eingeschaltet. Die Gruppe um den Bundestagsabgeordneten Hans-Christian Stroebele forderte die Gruenen auf, ohne Denkverbote Wege aus der "koalitionspolitischen Eindimensionalitaet" zu suchen. Der Vorwurf an die fuehrenden Koepfe lautet, sie haetten in der Regierung mit der Anpassung an die "Schroeder-SPD" die programmatische Eigenstaendigkeit der Gruenen in Frage gestellt.

 

Berliner Tagesspiegel 18.9.99

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2. Das letzte Aufgebot des Joschka Fischer (Leitartikel)

Bernd Ulrich

 

Die OEffentlichkeit ist unerbittlich: Eine Partei muss immer in der Krise sein. Diese Regel brachte zuletzt einige Haerten fuer die SPD mit sich. Profitieren konnten davon die Gruenen: Sie haben Niederlagen erlitten, doch hat man auf sie nicht so geschaut. Dabei sind die Krisendaten bei ihnen weit, weit bedrohlicher als bei der SPD.

Die Gruenen haben seit dem September 1998 alle Wahlen verloren, zuerst in Hessen, dann Europa, zuletzt im Saarland, in Brandenburg, in Thueringen und in Nordrhein-Westfalen, morgen wohl in Sachsen und Berlin, uebermorgen in Schleswig-Holstein. In der Bundesregierung konnten die Gruenen wenig durchsetzen. Ihr Umweltminister schlaegt eher negativ zu Buche, Gesundheitsministerin Fischer kaempft tapfer, kann aber nicht gegen AErzte und Patienten zugleich gewinnen. Der erfolgreich abwesende Aussenminster ist populaer, obwohl er ein Gruener ist. Der Bundesvorstand tritt bestenfalls kaum in Erscheinung. Die Debatte ueber ein Grundsatzprogramm hat er in die Papiermuehlen der Gremien ueberfuehrt. Die gruene Sinnkrise wird so gewiss nicht ueberwunden.

Bliebe der Fraktionsvorstand. Dem gelingt es nicht, die in den Strukturen angelegte Unkonzentriertheit zu ueberwinden. Monatelang konnte Hans Eichel zum Helden einer Sparpolitik werden, die von den Gruenen laengst vorgedacht worden war. Ihr Haushaltsexperte Oswald Metzger verschwand weitgehend aus der OEffentlichkeit, anstatt sich taeglich hilfreich an die Seite des Finanzministers zu draengen. Und der Fraktionsvorstand liess ihn beim Nichtstun gewaehren. Das sind atemberaubende Unterlassungen, bedenkt man die strategische Zwickmuehle der Partei: Wenn es der SPD nicht gelingt, sich zu modernisieren, zieht sie die Gruenen mit in den Abgrund. Gelingt es ihr, sehen die Gruenen daneben alt aus.

Wenn nichts geschieht, wird Joschka Fischers Generationenpartei in den naechsten Jahren versanden. Rezzo Schlauch und Kerstin Mueller, Gunda Roestel und Antje Radcke werden das nicht verhindern koennen. Und Fischer als fliegender Parteichef - das ist bei den gegebenen Strukturen eine Utopie. Diese Bilanz hat Fischer gezogen und beschlossen: Er will sich wieder einmischen.

Fragt sich nur wie. Mit theoretischen Einlassungen die Wiederbeseelung der Partei vorantreiben? Das ist nicht Fischers Art. Mit einem fulminanten Koalitionskrach? Das waere unkalkulierbar. Mit einem Generalangriff auf die Parteistrukturen? Damit ist er kuerzlich erst gescheitert. Mit einem Kehraus in den Fuehrungsgremien? Dafuer ist die Personaldecke zu duenn. Mit einem Kompromiss aus kleiner Strukturreform und kleiner Fuehrungsrochade? Das ist nach Fischers Art. Er ist ein Zoegerer. Diese Aktion braechte gerade so viel Aufregung, wie er sie sich und dem gruenen Hasenherzen noch zumuten mag.

Das Szenario sieht so aus: Gunda Roestel und Antje Radcke treten zurueck und berufen einen Sonderparteitag ein. Dort wird die Trennung von Amt und Mandat aufgehoben. Der Realo Fritz Kuhn und die Berliner Linke Renate Kuenast werden Parteisprecher. Das nimmt sich angesichts der dramatischen Lage bescheiden aus.

Doch zwei solche Profis koennten die Maengel der Partei beheben – oder zumindest geschickter ueberdecken. Der theoretisch versierte Kuhn waere am ehesten in der Lage, die Oeffentlichkeit fuer eine gruene Programmdebatte zu interessieren. Zusammen mit einem "Partei-Praesidenten" Fischer koennten Kuhn und Kuenast die zerstreuten Kraefte sammeln.

Die Operation ist riskant. Denn die beiden Sprecherinnen sind nicht schuld an der Krise: Sie sind Landespolitikerinnen, die in einen zu grossen Anzug gesteckt wurden. Radcke und besonders Roestel haetten das Recht auf eine anderweitige Karriere. Ob Fischer ihnen die bieten kann, ist fraglich. Auch bleibt offen, ob die Partei wegen Fritz Kuhn mit Zwei-Drittel-Mehrheit die Satzung aendert. Kuhn ist nicht uebermaessig beliebt, weil er seine beachtliche Intelligenz nur selten gut genug zu verbergen weiss.

Fischer ist derjenige, der diese Schwierigkeiten ueberwinden kann. Nur er kann den Plan, man darf ihn wohl den seinen nennen, umsetzen. Dann waeren immerhin Mindestvoraussetzungen fuer ein UEberleben der Gruenen gegeben. Oder er laesst es bleiben. Auch dann haette Joschka Fischer sich entschieden.

 

Berliner Tagesspiegel, 18.9.99

 

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3. "Wir haben nicht genug gruenes Profil"

- ein Interview mit Claudia Roth ueber den Zustand der Partei und die Personalspekulationen

 

Claudia Roth (44), gehoert zum fuehrenden Fluegel der Gruenen und ist im Bundestag Vorsitzende des Ausschusses fuer Menschenrechte. Mit ihr sprach Matthias Meisner.

Fuehrende Gruenen-Politiker sowohl des linken wie des realpolitischen Fluegels haben sich angeblich darauf geeinigt, die Fuehrungsspitze der Partei mit Gunda Roestel und Antje Radcke abzuloesen. Was ist da dran?

Wir muessen ein Jahr Rot-Gruen im Bund ganz ernsthaft und unbeschoenigt bilanzieren. Das kann sich nicht reduzieren auf eine Personaldebatte oder eine Strukturdebatte.

Die Frage, ob Gunda Roestel Vorstandssprecherin bleibt, stellt sich schon an diesem Sonntag. Sie ist Spitzenkandidatin bei der saechsischen Landtagswahl und hat ihre politische Zukunft mit ihrem Abschneiden dort verknuepft.

Gunda Roestel hat gesagt, sie werde die Verantwortung fuer ein enttaeuschendes Wahlergebnis uebernehmen. Es ist ungluecklich, dass sie damit selbst zu Personalspekulationen beigetragen hat. Das Schicksal einer Partei haengt nicht an einer Person. Dass wir vor allem in den Ost-Laendern richtig grosse Probleme haben, kann auch eine Gunda Roestel allein nicht aendern.

Wer rettet die Gruenen dann?

Wir muessen schonungslos bilanzieren, warum wir seit geraumer Zeit bei Wahlen nicht gut aussehen. Immer haeufiger wird uns die gefaehrliche Frage gestellt: Warum sollen wir noch gruen waehlen? Darauf brauchen wir eine Antwort. Die Struktur und die Frage, wer in welcher Struktur die richtige Person ist, die kommt dann.

Welche wichtigen Fehler haben die Gruenen seit der Wahl gemacht?

Wir haben in der Regierungssituation nicht genug gruenes Profil. Es sind viele gute Dinge gelaufen - etwa im Menschenrechtsbereich oder bei der oekologischen Steuerreform. Und doch werden sie nicht mit den Gruenen identifiziert. Das heisst nicht, dass wir in Fundamentalopposition zur SPD gehen sollen. Aber die Rollenverteilung zwischen Regierung, Fraktion und Partei muss deutlicher werden. Das Parteiprogramm darf nicht auf den Koalitionsvertrag reduziert werden.

Hauptkritikpunkt an den Gruenen ist der Fluegelstreit.

Es ist wichtig, dass es unterschiedliche Stroemungen und damit unterschiedliche Perspektiven gab und gibt. Da waren wir auch als Linke zu untaetig. Die inhaltliche Debatte muss stimuliert werden.

Sie wollen heraus aus der "koalitionspolitischen Eindimensionalitaet". Wenn nicht mit der SPD, dann mit der CDU oder mit der PDS?

Es darf keine geborene Partnerschaft geben, sonst werden wir abhaengig. Wir muessen an dieses Thema ohne Tabus heran. Eine Zusammenarbeit mit der PDS sollten wir nicht per se ausschliessen, etwa nicht in Berlin. Dagegen ist in Nordrhein-Westfalen nach den Erfahrungen mit der dortigen SPD auch eine Zusammenarbeit mit der CDU nicht grundsaetzlich abzulehnen.

Der Tagesspiegel vom 18. September 1999

 

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Neue Doppelspitze bei den Gruenen?

 

4. Die Berliner Gruenen sind im Erklaerungsnotstand - wenn ihre Spitzenkandidatin wirklich in die Bundespartei wechselt

Axel Bahr

Wenn es so kommt, wie es viele in der Partei fuerchten, dann haben die Berliner Gruenen ab der kommenden Woche ein gewaltiges Problem, das sie bis zum Wahltag am 10. Oktober weder loesen noch oeffentlich so recht erklaeren koennen. Ihre Spitzenkandatin, Fraktionsvorsitzende Renate Kuenast, wird in den internen Planungen der Bundespartei seit Tagen als designierte Vorstandssprecherin gehandelt. Inoffiziell werden derlei Planspiele nicht dementiert. Fuer den aktuellen Wahlkampf und die Spitzenkandidatin, die sich den Berliner Waehlern in der ganzen Stadt auf Plakaten mit ihrem Konterfei und dem selbstbewussten Slogan "Wen sonst" empfiehlt, kann die aktuelle Diskussion fatale Folgen haben.

Gebannt blickt darum der Berliner Landesverband am Sonntag nach Sachsen. Wenn die Gruenen bei der saechsischen Landtagswahl, wie in den Urnengaengen der letzten Wochen und Monate auch, drastische Verluste einstecken muessen, dann gilt der Ruecktritt von Vorstandssprecherin Gunda Roestel als so gut wie perfekt. Roestel, die den stark auf sie zugeschnittenen saechsischen Gruenen-Wahlkampf anfuehrt, hatte bereits am vergangenen Montag einen eventuellen Ruecktritt angekuendigt, um damit die Verantwortung fuer die bescheidene Waehlerresonanz zu uebernehmen. Die Berliner Landesvorstandssprecher Regina Michalek und Andreas Schulze hatten Frau Roestel daraufhin in einem offenen Brief aufgefordert, auf jeden Fall im Amt zu bleiben. Die Berliner Parteispitze argumentiert mit grossem Nachdruck, dass der Austausch von Personen die aktuelle Krise der Partei und den Verlust von Waehlerstimmen auch nicht umkehren koennten. Es sei vielmehr an der Zeit, ueber Strukturen und Inhalte zu sprechen.

Bis zur Abgeordnetenhauswahl am 10. Oktober hofft nun der Landesverband instaendig auf keinen personellen Dammbruch in der Bundespartei. Renate Kuenast hat sich bisher hinter der doppeldeutigen und jede Option offenhaltenden Losung versteckt, auf jeden Fall in Berlin bleiben zu wollen. In Berlin bliebe sie auch als Vorstandssprecherin der Bundespartei. Dass die ambitionierte Juristin nach dem Weggang ihrer Fraktionskollegin Michaele Schreyer als EU-Kommissarin nach Bruessel und dem Sprung der Berliner Gruenen Andrea Fischer in ein Ministeramt nicht abgeneigt waere, ebenfalls auf einer hoeheren als auf der Berliner Landesebene Politik zu gestalten, gilt in der Partei als offenes Geheimnis. Konkrete Schritte in diese Richtung duerften aber fruehestens am 11. Oktober diskutiert werden und keinesfalls in der heissen Wahlkampfphase. Ansonsten drohe der Verlust der Glaubwuerdigkeit. "Wie koennen wir mit einer Spitzenkandidatin in den Wahlkampf ziehen, die eigentlich auf dem Sprung zu hoeheren Weihen ist?!" beschreibt ein langgedientes Parteimitglied das Dilemma der Partei. Renate Kuenast gibt sich trotz aller Diskussionen um ihre Person sehr wortkarg. Sie sei Spitzenkandidatin, und die bleibe in Berlin. Mehr gebe es dazu nicht zu sagen.

 

Der Tagesspiegel vom 18. September 1999

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5. Joschka Fischer nutzt die Zeit der Wahldebakel, um seine Vorstellung von der gruenen Parteizukunft durchzusetzen

Thomas Kroeter

Fischer spricht. Vom Rednerpult, aber nicht nur. Plenardebatten des Bundestags sind auch deshalb praktisch, weil man so viele Leute trifft. Mit denen hockt man sich in eine hintere Sitzreihe und redet. Da waren etwa zwei Herrschaften zu beobachten, die auf Parteitagen manchen Strauss ausgefochten haben, um hinterher den Kompromiss zu basteln: Joschka Fischer, der graumelierte Ober-Realo, und Christian Stroebele, der graue Altlinke aus Berlin. Das Signal ist eindeutig und nicht das einzige: Joschka kuemmert sich wieder um seine Partei. Er hat sogar den Abflug zu seiner Rede in der UN-Vollversammlung verschoben, um am Montag, nach dem erwarteten Desaster bei der Sachsen-Wahl, gruenen Gremien die seltene Ehre zu geben. Die Lage war noch nie so ernst, findet der mit Abstand beliebteste Gruene.

In den Reihen der kleinen Regierungspartei geht die Angst um. Das Doppeldesaster der SPD in Thueringen und Nordrhein-Westfalen, die eigene Miniaturisierung im Osten hat eine groessere Katastrophe verdeckt: Am Rhein verloren nicht nur die Sozialdemokraten - die Gruenen buessten in absoluten Zahlen fast die Haelfte ihrer Waehler ein. "Wenn jetzt im Bund gewaehlt wuerde, waeren wir draussen", sagt jemand, der nicht Fischers Fluegel angehoert. Die Krisenstimmung, jedenfalls bei den Verantwortlichen in Berlin, ist fluegeluebergreifend. Zudem droht in der Koalition die Mutter aller Schlachten: Die Auseinandersetzung um den Atomausstieg. Ohne gesichtswahrenden Kompromiss koennen die Gruenen sich von den Wahlzetteln streichen lassen. Deshalb spricht Fischer auch hier mit.

Aber Angst steigert nicht den UEberblick. Die Debatte verlaesst den rational gesteuerten Sektor. Da haben gerade zwei parteibekannte Papier-Verfasser ein neues Schreiben lanciert, das ein an der Basis haeufig gebrauchtes Wort aufgreift: "Verschroederung". Raus aus der "Erpressbarkeitsfalle" durch die Fixierung auf die SPD wollen Frieder O. Wolf und Frithjof Schmidt. Deshalb ertraeumen sie Koalitionsmoeglichkeiten von Schwarz-Gruen bis zu Rot-Gruen plus Dunkel-PDS-Rot. Da wird sich Wolfs Berliner Parteifreundin Renate Kuenast noch mehr freuen als sie es ohnehin schon tut. Zumal Parteisprecherin Gunda Roestel ihr und den Gruenen kurz vor der Wahl zum Abgeordnetenhaus eine Personaldiskussion eingebrockt hat. Schon wabert die Nachfolge-Debatte - bis zu Kuenast. Die Berlinerin wuerde gern ueber die Landespolitik hinaus wirken, aber eine Spitzenkandidatin kann es kaum brauchen, dauernd mit dem Vorhalt konfrontiert zu werden: Na, Sie sind ja bloss noch auf der Durchreise.

Muesste sie aber nicht sein. In den Parteigremien, selbst der beauftragten "Strukturkommission", bewegt sich etwas in Richtung Abschaffung der Trennung von Amt und Mandat. Dann waere auch der Weg frei fuer einen immer wieder genannten Uralt-Kumpel von Joschka Fischer und Fraktionschef Rezzo Schlauch: Den baden-wuerttembergischen Fraktionschef Fritz Kuhn. Ein gruenes Traumpaar - besonders aus Realo-Sicht. Denn sonderlich links ist auch Kuenast nicht mehr. Kuhn hat eine Meldung in "Bild" punktgenau dementiert: Er berief sich auf die Satzungslage. Was waere, wenn sie geaendert wuerde, hat er nicht verraten.

Bei dieser Gelegenheit ist auch eine Idee an die OEffentlichkeit gekommen, fuer die Fischer offenbar bei seinen fluegeluebergreifenden Gespraechen wirbt: Die Gruenen brauchen eine "Kampa". Das war, ausgelagert aus der SPD-Zentrale, Franz Muenteferings Gefechtsstand fuer den Sieg-Wahlkampf 1998. Der naechste beginnt - nicht bloss aus Fischers Sicht - nach Berlin: Die Wahlkaempfe um die Regierungsbeteiligung in Kiel und Duesseldorf muessten wie eine Bundeskampagne gefuehrt werden. Zuletzt hat Fischer den eigenen Wahlkampf privat organisiert. Das koennte, auch was die gesponserte Finanzierung angeht, Modell fuer 2002 sein. Mindestens der Gedanke der Professionalisierung findet Anklang selbst bei Parteilinken wie Parteisprecherin Antje Radcke. Andere UEberlegungen gehen dahin, den neuen, ebenfalls ineffektiven "Parteirat" zugunsten eines Praesidiums abzuschaffen, in dem die wichtigsten Gruenen das Sagen haben. Dann waeren die Sprecher der Partei nicht mehr so wichtig, weil Fischer fuer sie sprechen koennte. Aber das ist Zukunft.

Radcke und Buetikofer haben aktuellere Sorgen. Auf der Autofahrt in ihre neue Berliner Wohnung erfuhr Radcke aus dem Radio, dass sie zuruecktreten wolle. Trotz Roestels Wackeln denkt sie nicht daran. Im Gegenteil. Der Linken und dem Geschaeftsfuehrer (Realo) wird nachgesagt, sie wollten ihre Amtszeit bis Ende naechsten Jahres nutzen, um zu zeigen, wie gut sie allein klarkommen, und sich fuer die Zukunft als Doppelspitze neuen Typs empfehlen. Aber auch da hat Fischer mitzureden.

 

Berliner Tagesspiegel 18.9.99

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6. Gunda Roestel auf der Verliererstrasse - die Ruecktrittsgedanken der saechsischen Spitzen-Gruenen schon vor der Wahl

Albert Funk

Buendnis90/Die Gruenen haben sich verabschiedet, was bleibt, sind die Gruenen. Der Versuch, die westdeutsche Partei mit dem groesseren Teil der ostdeutschen Buergerbewegung zu einer gesamtdeutschen Partei zu verschmelzen und damit in den neuen Laendern Fuss zu fassen, ist weitgehend gescheitert. In Sachsen ist am Sonntag ein Misserfolg absehbar, die Hoffnung, doch noch in einen Ost-Landtag einzuruecken und damit wenigstens ein Lichtlein brennen zu haben in der Diaspora, ist gering. Der Unterbau ist bruechiger als im Westen, wo die Gruenen in fast allen Landtagen vertreten sind. Und noch bevor die Wahllokale zwischen Zwickau und Zittau geschlossen sind, reden die Gruenen nun von neuer Fuehrung, neuem Glueck.

Gunda Roestel, die Spitzenkandidatin in Sachsen und Bundessprecherin der Partei, steht einen Tag vor der Landtagswahl duepiert da angesichts dieser Debatte. Ausgerechnet sie, die ostdeutsche "Reala", die sich immer offen gezeigt hat fuer Schwarz-Gruen, was 1994 in Sachsen (da war Roestel Landessprecherin) mit Koalitionsaussage deutlich gemacht wurde, muss nun angesichts der Ausbruchversuche der Fischer-Gruenen in die unendlichen Weiten der politischen Mitte und damit in die koalitionspolitische Offenheit ihrer Demontage zuschauen.

Roestel, die immer mit Zweifeln an ihrer Befaehigung fuer das Parteiamt zu leben hatte, hat zu Wochenbeginn angekuendigt, bei einer "bitteren Niederlage" Konsequenzen ziehen zu wollen - und damit den Auftakt zur Debatte der Woche immerhin selbst gesetzt (nachdem das Thema schon vor einigen Wochen durch die Schlagzeilenmaschinen gedreht wurde). Doch was ist bitter? 4,1 Prozent waren es 1994. "Unser Ziel in Sachsen ist: Deutlicher Trend nach oben", sagt sie und legt sich damit fest. Doch ob ein Ergebnis zu Stande kommt, mit dem man nochmals fuenf Jahre den Eindruck erwecken kann, ganz sei die gruene Sache im Osten noch nicht verloren, ist ungewiss. Schon das Resultat von 1994 eingermassen zu halten, waere angesichts des Abrutschens der Gruenen bei den vorangegangenen Wahlen in Brandenburg und Thueringen ein Erfolg fuer die ehemalige Sonderschulleiterin.

Aber sie baut vor: "Ein Niederlage haette viele Vaeter und Muetter. Die Gruenen haben nicht nur im Osten an Zustimmung verloren. Die Partei hat zu lange darauf vertraut, dass in bestimmten Schichten Gruen-Waehlen schick ist, aber das gilt nicht mehr." Unter Konsequenzen versteht sie nicht nur personelle: "Die ostdeutschen Themen gehen die Gesamtpartei an, wenn man sieht, wie die Bundespartei die Verankerung nach unten verliert."

Das Wort von der Ein-Generationen-Partei der 30- bis 45-Jaehrigen macht mindestens seit der Schlappe in Hessen im Februar die Runde, als es die Gruenen waren, deren Verluste die Fortsetzung der rot-gruenen Regierung in Wiesbaden scheitern liessen. Und jene Generation ist eine westdeutsche Generation, unberuehrt von spezifisch ostdeutschen Themen. Roestel hat sich bemueht, die Basis der Partei im Osten zu erweitern, junge Akademiker, Selbststaendige, Mittelstand anzusprechen. Sichtbar gelungen ist das nicht, auch wenn sie stolz vermerkt, auf ihrer Landesliste sei immerhin ein Unternehmer, bei der saechsischen CDU gar keiner.

Am Wahlabend zumindest werde es keine Ruecktritte geben, sagt Roestel. Dass sie Konsequenzen ziehen kann, hat sie 1994 gezeigt: Da trat sie nach der Niederlage in Sachsen als Landessprecherin umgehend zurueck.

Aber zusammen mit der gesamten Parteifuehrung.

 

Der Tagesspiegel vom 18. September 1999

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7. Das Sprecheramt ist ueberlebt - und die Partei weiss es

Tissy Bruns

 

Am Anfang waren es drei. August Haussleiter, Norbert Mann und Petra Kelly wurden im Maerz 1980 die ersten Sprecher der nach langer Vorlaufzeit gegruendeten gruenen Partei. Die Begriffe Realo und Fundi gab es damals noch nicht, wohl aber die ersten Stroemungskaempfe. Herbert Gruhl, der "rechte" OEkologe verlaesst die Partei 1981. Petra Kelly, ihr bekanntestes Gesicht, macht eine typisch gruene Karriere.

Weil sie in den Bundestag will, kandidiert sie 1982 nicht mehr als Sprecherin. Denn die Trennung von Amt und Mandat gehoert zu den gruenen Markenzeichen. Zum grossen Kummer der Realos bis heute. Einst verstanden als Innovation gegen Filz und Langeweile in den "Altparteien", hat sie laengst zu einem grundlegenden Strukturproblem gefuehrt: Weil die Mandate vom Waehler, also Parlaments- und Regierungsposten, viel einfluss- und uebrigens auch einnahmereicher sind als die Parteiaemter, draengen auf die Spitzenaemter der Partei nicht unbedingt die besten gruenen Koepfe.

Die Doppelspitze ist Produkt eines gruenen Traumas: der ueberraschenden Niederlage der West-Gruenen bei der Bundestagswahl 1990. Aber den Dualismus der Lager haben die Parteisprecher auch vorher schon repraesentiert. In der zweiten Haelfte der 80er, als die Herausbildung der Realo- und Fundi-Stroemung sich verfestigte, praesentierten der Hamburger OEko-Sozialist Rainer Trampert (Parteiaustritt 1990) und die Hessin Jutta Ditfurth (Parteiaustritt 91) als Parteisprecher das "linke" Gesicht der Parteibasis, waehrend die Realos ueber Parlamente und den "Spiegel" agierten. Zwei Sprecher, Geschaeftsfuehrer, Schatzmeister, neun Beisitzer und ein Laenderrat, hiess die Strukturreform von 1991.

Die hinter den Kulissen ausgekluegelte Besetzung an der Spitze machen die Delegierten aber nicht mit: das Duo Hubert Kleinert und Antje Vollmer scheiterte. Gewaehlt wurden stattdessen die Ostdeutsche Christine Weiske vom Buendnis 90 und der Linke Ludger Volmer, der heute Joschka Fischers Staatsminister ist. Die maennlichen Sprecher Volmer und Juergen Trittin waren die linken Sachwalter des "Burgfriedens" zwischen Fundis und Realos, informeller Parteichef mit begrenztem Einfluss auf Parteitagen Joschka Fischer. Die weiblichen Sprecherinnen hatten vor allem die undankbare Rolle, sonstige Quoten zu erfuellen: Frau und Ost. Weiske scheiterte in diesem Amt wie Marianne Birthler, und West-Reala Krista Sager bewegte sehr viel weniger als in ihrer Heimatstadt Hamburg. Die weibliche Doppelspitze Antje Radcke und Gunda Roestel ist ein Trostpflaster fuer die Quotenpartei, die akzeptieren musste, dass die strenge Frauenquotierung bei den Regierungsaemtern aufhoert.

Nie zuvor mussten gruene Parteisprecher eine so undankbare Aufgabe erfuellen wie Roestel und Radcke. Denn die ganze Partei der Buendnisgruenen weiss nur zu genau: das Modell ist ueberlebt.

 

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