Welt am Sonntag vom 02.07.2000

Linke Grüne warnen Realos vor dem Verlust der Stammwählerschaft

Nach dem Parteitag von Bündnis 90/Die Grünen in Münster hat die Parteilinke davor gewarnt, ohne Not urgrüne Positionen aufzugeben. "Das war ein absoluter Realo-Durchmarsch, sagte Ralf Henze, der Koordinator des Bündnisses BasisGrün, in den sich linke Grüne und bereits ausgetretene Parteimitglieder engagieren. "Dieser Parteitag war bewußt als Zäsurparteitag geplant, um den Dachboden auszukehren. Die Linke ist jetzt unerwünscht."

Henze kritisierte die zunehmende "Realosierung" der Partei massiv: "In der Mitte versuchen alle zu angeln. Das ist definitiv die falsche Strategie. Das Stammwählerspektrum ist weg, das haben alle letzten Landtagswahlen gezeigt." Wie schon nach den Parteitagen von Bielefeld und Karlsruhe werde es erneut eine Austrittswelle geben, prophezeite Henze: "Der linke Rand bröckelt immer weiter ab:"

Auch die niedersächsische Landesvorsitzende Heidi Tischmann, die sich gegen den in Münster abgesegneten Atomkonsens engagiert hatte, zeigt sich enttäuscht: "Wir fürchten, daß wir jetzt abgehängt werden und Niedersachsen das Atomklo der Republik wird", sagte Tischmann. Ihr Landesverband hatte schon zuvor große Mitgliederverluste zu verkraften.

Als Sieg auf ganzer Linie wurde der Parteitag im Realo-Flügel gefeiert. "Mit dem Anspruch der Linken, die Hälfte der Partei zu sein, ist es jetzt vorbei," sagte der Bundestagsabgeordnete Matthias Berninger. "Münster war ein Erdrutsch. Die Realos dominieren nicht nur die Fraktion, sondern auch den Parteivorstand und den neuen Parteirat."

Die Parteiaustritte betrachtete Berninger ohne große Sentimentalität. "Die Grünen sind es gewohnt, dass Leute gehen und andere wieder nachwachsen. Um die guten Kommunalpolitiker ist es schade. Aber ein Teil der Leute wollte auch nie regieren. Denen sollten wir auch die Schranken weisen."

Die Grünen seien jetzt in der Situation, alle kritischen Probleme abgefeiert zu haben und sich jetzt dem Grundsatzprogramm widmen zu können. Dort gehe es auch darum, "mit einer Reihe von Mythen aufzuräumen". Der Parteitag sei auch für ihn persönlich eine Zäsur gewesen, sagte Berninger, der diese Woche sein Amt als Realo-Koordinator niederlegte. "Im linken Flügel sehe ich wirklich keinen Gegner mehr. Dafür ist er zu schwach."

Intregration statt Ausgrenzung forderte hingegen der Bundestagsabgeordnete Christian Simmert. "Die Linken liegen immer noch zwischen 35 und 40%. Es kann nicht sein, daß man jetzt einen Ausgrenzungskurs fährt, wie der eine oder andere dies in der Fraktion tut." Dies wäre sowohl inhaltlich als auch strategisch ein Verlust, der sich in Wählerstimmen ausdrücken würde.

Spekulationen über angebliche Wünsche der Parteilinken, Kerstin Müller als Fraktionschefin abzulösen, erteilte Simmert eine klare Absage. "Das ist eine abwegige Gespensterdebatte. Einen Neuanfang kann es nur geben, wenn die Personaldebatten aufhören." Auch seine Fraktionskollegin Claudia Roth, die als mögliche Nachfolgerin Müllers genannt worden war, dementierte: "Eine merkwürdige Diskussion, die da hochgezogen wurde. Ich beteilige mich daran nicht."