Jürgen Trittin
Bundesumweltminister
Alexanderplatz 6
10178 Berlin


An die Delegierten
des Bundesparteitages von
Bündnis 90/Die Grünen

Vom Stand des Ausstiegs
Ein Zwischenbericht

Liebe Freundinnen und Freunde,
anstelle eines überarbeiteten Leitantrages zum Thema Atomausstieg erreicht Euch mit dieser Aussendung ein Brief von mir. Der Grund ist einfach. Die Verhandlungen der Bundesregierung mit den Betreibern sind nicht beendet. Zwar wird zur Zeit von Seiten der Industrie zum ersten Mal ernsthaft verhandelt. Aber die Verhandlungen sind noch nicht zu einem Ergebnis gekommen. Nach dem Stand von heute kann niemand sagen, ob an ihrem Ende ein Konsens stehen wird.

Blockierter Ausstieg
Diese Verzögerung ärgert uns alle. Sie ist nicht akzeptabel. Sie ist nicht durch den Koalitionsvertrag gedeckt. 100 Tage nach dem Regierungsantritt sollte eine Novelle des Atomgesetzes in den Bundes-tag eingebracht werden. Die mit dem Koalitionspartner abgestimmte Novelle wurde von ihm gestoppt. Seit dem Frühjahr liegen die Betriebspläne für die Unterbrechung der Erkundungen in Gorleben ver-abschiedungsreif vor. Seit dem Sommer liegt ein grüner Vorschlag für einen Konsens vor, der die Stillegung von AKWs in dieser Wahlperiode durch ein Modell flexibler Laufzeiten vorsieht.
Die Gründe für diese Blockaden sind vielfältig. Dazu gehört auch die Weigerung der Grünen, sich auf 40 Jahre Laufzeit im Gesetz und eine Verkürzung auf 35 Jahre in einem öffentlich-rechtlichen Vertrag bei gleichzeitiger Disziplinierung der Atomaufsicht einzulassen.
Hauptgrund aber ist der anhaltende Widerstand der Industrie gepaart mit einer unterschiedlichen Konfliktbereitschaft und -fähigkeit der beiden Koalitionsparteien. Im Januar 1999 war es die Forderung sofort Transporte zur Wiederaufarbeitung aufnehmen zu dürfen, die die Verhandlungen in eine Sack-gasse brachten. (Die Transporte wurden bis heute nicht genehmigt.) Ab Frühjahr fanden keine Ver-handlungen mehr statt, weil die Industrie lieber über gestrichene 20 Mrd. Subventionen streiten woll-te. Seit dem Sommer verweigert sie Verhandlungen, weil sie zuvor erfahren wollte, was ihr denn im Dissensfall drohe.
Diese Verweigerung hat aber letztlich dazu geführt, dass die Regierung sich auf eine gemeinsame, belastbare Position verständigt hat, die sich in den Beschlüssen der Bundestagsfraktionen von SPD und Grünen sowie den Ergebnissen einer Ministerrunde niedergeschlagen hat.

Einstieg in die Energiewende
Bei allem Streit und aller Verzögerung beim Ausstieg hat die Koalition doch den Einstieg in eine ande-re Energiepolitik erreicht. Die Energiewende ist eingeleitet.
- Mit der ökologischen Steuerreform und der Einführung der Stromsteuer wurde das lang-fristige Signal    gesetzt, dass sich Energiesparen lohnt.
- Über das daraus gewonnene Aufkommen wurde ein Markteinführungsprogramm für er-neuerbare Energien    im Umfang von gut 1 Mrd. bis 2002 aufgelegt, das stark der Biomasse zugute kommt.
- Mit dem 100 000 Dächer Photovoltaik Programm bekommt die Solarenergie eine Zukunft.
- Das Erneuerbare Energien Gesetz schafft mit einer kostenorientierten Einspeisevergütung (99 Pf/KWh für    Solarstrom) Investitionssicherheit und -anreize für Betreiber von Photovol-taikanlagen und Windmüller und    bezieht erstmals auch die Biomasse in die Einspeisevergü-tung mit ein. Damit wird das Ziel, den Anteil    erneuerbarer Energien bis 2010 zu verdoppeln, greifbar.
- Die hocheffiziente und klimaschonende Kraft-Wärme-Koppelung wurde von der Koalition vor den    negativen Nebenwirkungen der Liberalisierung besonders geschützt. Kleine Anlagen wurden von der    Stromsteuer ausgenommen. Über eine Bonus-Regelung werden kommunale Anlagen vor den Folgen eines    ruinösen Wettbewerbs im liberalisierten Strommarkt befristet geschützt. Ein dauerhaftes Förderprogramm ist    grundsätzlich verabredet.
- Hocheffiziente und schadstoffarme Gas- und Dampf-Kraftwerke wurden - befristet - von der Gassteuer    befreit und damit Kohlekraftwerken und AKWs gleichgestellt, die auch keine Primärenergiesteuer bezahlen.
- Der Wettbewerbsvorteil von AKW-Betreibern durch die steuerfreien Rücklagen wurde dra-stisch reduziert.    20 Mrd. Subventionen kommen so der Entlastung von Familien im Rahmen der Steuerreform zugute.

Gewiss, es gibt noch viel zu tun und auch zu streiten. Die Steuerbefreiung für GuD-Kraftwerke wird noch von der EU beanstandet. Wenn die Kraft-Wärme-Koppelung im Interesse des Klimaschutzes tatsächlich verdoppelt werden soll, bedarf es wirksamerer Instrumente als der Bonus-Regelung. Es bedarf klarer, jährlich wachsender Quoten.

Aber eines kann heute schon festgehalten werden: Rot-Grün ist der Einstieg in die Energiewende gelungen. Die grüne Handschrift ist gerade da unübersehbar.

Laufzeiten befristen
Alle 19 Atomkraftwerke in Deutschland besitzen unbefristete Betriebsgenehmigungen. Deshalb heißt es im Koalitionsvertrag:
"Als dritten Schritt wird die Koalition nach Ablauf dieser Frist ein Gesetz einbringen, mit dem der Ausstieg aus der Kernenergienutzung entschädigungsfrei geregelt wird; dazu werden die Betriebsgenehmigungen zeitlich befristet."
Lange Zeit war umstritten, ob die Betriebsgenehmigungen rechtlich einwandfrei nachträglich befristet werden können. Nachdem die Betreiber die Verhandlungen im letzten Sommer mit der Begründung abgelehnt hatten, sie wollten zunächst wissen, was ihnen im Falle des Dissenses drohe, wurde diese Frage in der Koalition einer Klärung zugeführt. Nach monatelangen Prüfungen tragen die Verfassungs-ressorts Justiz und Innen sowie das Kanzleramt und das Wirtschaftsministerium die vom Umweltmini-sterium ausgearbeitete Linie mit.
Eine solche nachträgliche Befristung ist keine Enteignung, sondern eine zulässige, am Allgemeinwohl orientierte Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums. Das Grundrecht auf Berufsfreiheit steht dem ebenso wenig entgegen, wie der Euratomvertrag. Sie bietet keine Grundlage für Entschädi-gungsforderungen.
Notwendige Voraussetzung ist, dass nicht in die Substanz des Eigentums eingegriffen wird. Dieses ist in dem Moment gewährleistet, in dem die Atomkraftwerke abgeschrieben sind, und sich die Investi-tionen verzinst haben. Das Bundesumweltministerium vertritt die Position, dass dies 25 Jahre nach Inbetriebnahme unterstellt werden kann.
Die Einigung auf 30 Jahre zwischen den Koalitionspartnern war der Notwendigkeit geschuldet, eine insbesondere auch von den Verfassungsressorts Justiz und Innen mitgetragene gemeinsame Kon-fliktlinie festzulegen. Hierbei ging es auch darum, die Gefahr zu minimieren, dass ein Gesetz zum Ausstieg durch eine einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts gestoppt würde.
Diese 30-Jahresfrist warf aber ein Problem auf: Bei zwei Anlagen - Stade und Obrigheim - hätte ein solche Befristung wie ein Sofortausstieg gewirkt. Aus verfassungsrechtlichen Gründen war bei diesen zwei Anlagen nach Auffassung der Verfassungsressorts eine Übergangsfrist von drei Jahren einzu-räumen.
Die Folgen sind bekannt - für den Fall eines Ausstiegs im Dissens wären diese beiden Anlagen erst am 31.12.2002, also nach der Bundestagswahl, vom Netz gegangen. Unsere Antwort darauf war das Angebot an die Betreiber, durch eine Flexibilisierung von Laufzeiten innerhalb eines festen Rahmens von Restlaufzeiten, dennoch die Stillegung von Anlagen noch in dieser Wahlperiode zu erreichen.
Dennoch gilt es festzuhalten:
- Es geht um 30 Jahre nach der Inbetriebnahme der AKWs und nicht um 30 Jahre von heute an gerechnet.
- Die daraus resultierenden Restlaufzeiten für die AKWs betragen zwischen drei und 18 Jahren.
- Es geht nicht um 30 plus 3. Es geht um 30 Jahre für alle AKWs mit den zwei Ausnahmen Stade und   Obrigheim, die auf 31 ½ und 34,9 Jahre kämen.

Flexibilisierung: Anlagen jetzt schon stilllegen
Zunächst DIE GRÜNEN und dann die Regierung haben der Industrie angeboten, die verbleibenden Restlaufzeiten zwischen 3 und 18 Jahren auf die einzelnen Kraftwerke flexibel zu verteilen. Hierbei sollte die Möglichkeit bestehen, Laufzeiten von einem Kraftwerk auf ein anderes zu übertragen. Dieses hätte die Möglichkeit geschaffen, Anlagen vor dem Ablauf von dreißig Jahren vom Netz zu nehmen, dafür andere entsprechend länger laufen zu lassen. Dahinter stand die Erkenntnis, dass es Anlagen höchst unterschiedlicher Profitabilität gibt und dass der Nachrüstungsaufwand ebenfalls höchst unter-schiedlich ist. Es wäre ein Gewinn für die Sicherheit und für die Betreiber eine Kostenersparnis, solche Anlagen, anstatt sie teuer nachzurüsten, stillzulegen.
Für das Bundesumweltministerium war diese Flexibilisierung immer an drei Bedingungen geknüpft:
- Das Ausstiegsgesetz muss sich - wegen des CDU-majorisierten Bundesrats - zustim-mungsfrei gestalten    lassen.
- Der Zeitpunkt der Stillegung einer Anlage muss sich ohne weiteren Verwaltungsakt - und damit langjähriger    Auseinandersetzung vor den Verwaltungsgerichten -aus dem Gesetz direkt herleiten, also selbstvollziehend    sein.
- Die Summe der Restlaufzeiten darf sich nicht erhöhen.

Am einfachsten wäre dies durch eine Flexibilisierung auf der Basis von Kalenderjahren möglich gewe-sen. Um aber die Verhandlungen nicht an einem Streit über die Berechnungsmethode der Laufzeiten, sondern am Streit über die Laufzeiten zuzuspitzen, haben wir im Bundesumweltministerium ein Modell erarbeitet, das eine Flexibilisierung auch auf der Basis von Strommengen ermöglicht und dennoch die Voraussetzungen Zustimmungsfreiheit, Selbstvollziehend und Restlaufzeiten-Neutral erfüllt.

Diese wäre möglich, wenn die noch zulässigen Strommengen pro Anlage im Gesetz festgeschrieben würden, wenn eine Bundesbehörde dies überwacht und wenn diese Strommengen auf andere Anla-gen übertragen werden können. Diese Übertragungen wären bei der Bundesbehörde anzuzeigen.
Dabei ist es mir wichtig, auf zwei Punkte hinzuweisen:
- Strommengen statt Kalenderjahre ist kein Weg, um den Konflikt um die 30 Jahresfrist zu kaschieren. Die    Umrechnung von Laufzeiten in Strommengen kann nur auf der Basis der tatsächlichen bisherigen Auslastung    geschehen.
- Eine Übertragung kann es im Grundsatz nur von älteren auf neuere Anlagen geben.

So sehr sich die Betreiber Flexibilität wünschen, ihre Ausgestaltung ist bis heute strittig.

Transporte vermeiden - Ein neues Endlagerkonzept
Es kann keinen Ausstieg ohne Lösung der Entsorgungsfragen geben. Hierbei lässt sich die Bundesre-gierung von folgenden Grundsätzen leiten:
- Wir wollen Transporte minimieren. Die Transporte in innerdeutsche zentrale Zwi-schenlager sowie zu den    Wiederaufbereitungsanlagen sollen durch die dezentrale Zwi-schenlagerung an den Kraftwerksstandorten    beendet werden. Diese sollen nur im Um-fang der jeweiligen Restlaufzeit genehmigt werden.
- Das bestehende Entsorgungskonzept ist überholt. Wir wollen ein Endlager in tiefen geologischen    Formationen für alle Arten radioaktiven Mülls. Die Erkundung in Gorle-ben ist zu unterbrechen, Schacht    Konrad darf nicht in Betrieb genommen werden.
- Der über Jahre ins Ausland verschobene Atommüll muss zurückgenommen werden - nach Gorleben.

Akzeptabel durchsetzbar wird dies nur sein, wenn zuvor der Zeitpunkt der Beendigung der Produktion weiteren Mülls feststeht und wenn zum anderen die Vorfest-legungen am Standort Gorleben beendet werden: Unterbrechung der Erkundung in Gor-leben und keine Konditionierung zum Zwecke der Endlagerung.
Nachdem fast alle AKW-Betreiber Anträge auf dezentrale Zwischenlager gestellt haben, scheint eine Lösung der ersten Frage denkbar. Alle anderen Punkte können heute noch als strittig angesehen werden.
Die Entsorgungsfragen sind sicherlich im Konsens besser zu lösen als im Dissens. Das heißt aber nicht, dass alle Fragen, etwa eine Unterbrechung in Gorleben, zwingend auf einen Konsens angewie-sen wären.
Dies gilt auch für die Wiederaufarbeitung. Das Bundesumweltministerium hat die Atomaufsichten der Länder aufgefordert, vor der Genehmigung weiterer Wiederaufarbeitung von den Betreibern Nachwei-se über die tatsächliche Verwertung der abgebrannten Brennelemente zu verlangen. Vor einer Trans-portgenehmigung nach Sellafield ist wegen der bekannt gewordenen Fälschungen zudem die Frage der Zuverlässigkeit zu prüfen. Die Einfuhr von Material aus dieser Anlage wurde gestoppt.

Ein ambitioniertes Programm für Europa
GRÜNE haben sich aus den Erfahrungen des aktiven Widerstandes gegen Atomkraftwerke gegründet. Der Ausstieg aus einer Technologie, bei der die Folgen im Fall eines Unfalles unabsehbar und unbe-wältigbar sind, die nachfolgenden Generationen strahlende Altlasten ohne ein gesichertes Entsor-gungskonzept hinterlässt, war Gründungzweck. Der Ausstieg aus dieser Technologie und der Einstieg in eine ressourcenschonende, erneuerbare und effiziente Energiepolitik ist eines der zentralen Ziele grüner Regierungsbeteiligung.
Es geht heute nicht mehr um theoretische Möglichkeiten des Ausstiegs. Es geht um seinen realen Vollzug in Deutschland und anderswo. Wo immer Grüne mitregieren, setzen sie diese Frage auf die Tagesordnung. Hierbei kommt Deutschland als einem der wirtschaftlich stärksten Länder in Europa eine Schlüsselfunktion zu.
Dieser besonderen Verantwortung müssen wir gerecht werden. Der von uns ausgehandelte Aus-stiegsweg stellt ein ambitioniertes Programm dar. Es gibt kein Land Europas in dem Grüne mitregieren und in dem so umfassend und so schnell ausgestiegen wird - sieht man von Italien ab, wo schon 86 von der damaligen Mitte-Rechts-Regierung als Reaktion auf die Tschernobyl-Katastrophe alle Reaktoren stillgelegt wurden.
- In Finnland streiten sich die GRÜNEN mit ihrem Koalitionspartner in der zweiten Wahlperiode darüber, ob    nicht ein neues AKW gebaut werden soll.
- In Schweden wurde von der durch GRÜNE tolerierten SP-Regierung ein Block des Kraftwerkes    Barsebäck gegen 1,5 Mrd. Schwedenkronen Entschädigung stillgelegt. Wann weitere folgen ist unsicher.
- In Frankreich gilt ein Planungstopp für neue AKWs bis zum Jahre 2003. Von einem Ausstiegsbeschluss ist    die Regierung der GRÜNEN mit PS und KP weit entfernt.
- In Belgien hat sich die Koalition aus Sozialdemokraten, Liberalen und GRÜNEN unter Mode-ration von    Greenpeace auf eine Laufzeitbefristung von 40 Jahren verständigt.

Die Realität des Ausstiegs zeigt, dass die von uns anvisierte Laufzeit von 30 Jahren nach Inbetrieb-nahme das glatte Gegenteil von einem bloßen Auslaufen der Atomenergie ist. Hierbei wird - gestützt auf den politischen Willen der Mehrheit der Bevölkerung - in einem der Kernländer der Atomtechnolo-gie das Ende dieser Technik eingeleitet.

Die Blockade des Ausstiegs durchbrechen
Bündnis 90/Die Grünen haben in der Koalition den Ausstieg vorangetrieben. Wir waren dabei immer erfolgreich, wenn wir geschlossen agierten. Wir haben schwierige Kompromisse erarbeitet und auch Zugeständnisse gemacht. Wir haben Umwege und Verzögerung im Interesse der Sache hingenommen.
Nunmehr ist es an der Zeit die Blockade des Ausstiegs durch die Industrie zu beenden. Wir sind bei den Verhandlungen in der zweiten Halbzeit der Verlängerung. Ich würde mir von Karlsruhe das Signal wünschen, dass es eine dritte Halbzeit nicht gibt. Beim Ausstieg darf nicht länger auf Zeit gespielt werden.

Mit freundlichem Gruß
Euer
Jürgen Trittin