FAZ Freitag, 19.11.99

Spiegel der Geblendeten
Was der Krieg in Tschetschenien mit dem im Kosovo zu tun hat

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Die Nato-Aktion wurde zu einer wahren Fundgrube für die sitzen gebliebenen Nachahmungstäter, welche, in ihrem ersten Krieg medial demontiert, sich nun enthusiastisch die Kopie der Nato-Eingriffe an der Heimatfront widmen. Die Demonstrationen der virtuellen, angeblich terroristischen Stützpunktzerstörenden Hightech-Volltreffer, die in Wirklichkeit vielleicht Krankenhäuser oder Schulen in die Luft jagen, werden von Archivbildern ähnlicher Nato-Attacken begleitet. Die Verwüstung auf dem Markt von Grosny sind nicht viel mehr als Anlass, auf ein versehentlich getroffenes albanische Dorf hinzuweisen. Die Zahl der "Kollateralopfer" im Kosovo wird wie selbstverständlich in die Berichte über die Verluste unter der tschetschenischen Zivilbevölkerung einbezogen. Der Nato-Sprecher Shea, in Europa fast vergessen, erfreut die russischen Zuschauer tagtäglich mit seinem anachronischen Lächeln.

Die Gleichsetzung des Tschetschenien- und des Kosovo-Krieges in den russischen Medien scheint kompensatorische und legitimatorische Funktionen zu erfüllen: Seht her, wir sind imstande, den Krieg genauso professionell wie die Nato zu inszenieren: der Westen, der den Sündenfall im Kosovo beging, ist keine moralische Instanz mehr. Dabei ist die Abhängigkeit vom Westen nicht zu übersehen, denn seine Handlung dient als Norm, bloß ist es diesmal eine amoralische.

Besonders nachahmenswert schien dem russischen Militär die Vernichtung der gesamten Infrastruktur zu sein, die im letzten Krieg verschont blieb: Ölraffinierien, Stromnetze, Objekte der Industrie wurden, angesichts des Fehlens neuer Ziele in dem winzigen Land, unzählige Male ostentativ bombardiert, und zur Erklärung für die Vernichtung ziviler Objekte - die Raffinerien gehörten angeblich dem Terroristenführer Bassajew - kopierte man die Behauptung der Nato, die zerbombte Zigarettenfabrik in Belgrad sei im Besitz des Sohnes von Milosevic. Wenn eine Hightech-Armada einen sehr kleinen Gegner angreift, sucht dieser der militärischen Begegnung auszuweichen: Milosevic hat keinen Krieg gegen die Nato geführt. Dabei sprang die oft grotesk anmutenden Unverhältnismäßigkeit der Absichten und Resultate ins Auge. Die Nato bombardierte mit großer Präzision Panzerattrappen oder zivile Ziele, die in militärische Objekte umgedeutet wurden. Auch die Russen können den Terroristen, die sie aus der Luft angeblich zu Tausenden töten, keinen nennenswerten Schaden zufügen. Man erklärt einfach die zerbombten Objekte zu Stützpunkten und die ermordeten Menschen zu Terroristen.

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Die Anwendung von Gewalt in Serbien ohne rechtliche Grundlagen war ein Freibrief für alle, die dem mühsamen politischen Weg das Faustrecht vorziehen. Die Bomben der Nato, angeblich um die Menschenrechte besorgt, explodieren im russischen Kontext als massive Verletzung der Menschenrechte. Der Militärschlag der Nato hat der russischen Gesellschaft, die ihre Werte aus dem Westen übernahm, den kümmerlichen moralischen Boden entzogen. Wenn es Gott nicht gibt, ist alles erlaubt.

Sonja Margolina