Grüne: Freischwimmen statt baden gehen!

19.09.99

Partei in der Krise?

Nach den dramatischen Wahlniederlagen bei den Europawahlen, in Rheinland-Pfalz, Brandenburg, Saarland, Thüringen, Nordrhein-Westfalen und voraussichtlich Sachsen stellt sich für Bündnis 90/Die Grünen die Existenzfrage. Die Wahlverluste werden oft genug allein mit einem angeblichen Kommunikationsdefizit der Bundesregierung begründet. Wir hingegen begründen die Niederlagen anders: es fehlt an grünem Profil in der Bundespolitik, und die andauernden Personalquerelen lähmen.

Kurz vor der Thüringer Landtagswahl platzte eine Rentendebatte über die Absenkung des Rentenniveaus und die Verlängerung der Lebensarbeitszeit über die WählerInnen herein. Wir kritisieren die Politik der Mehrheit der Bundestagsfraktion, die dafür verantwortlich ist, dass das Bild der gesamten Partei als unsozial erscheint. Die Rücktrittsforderungen an Gunda Röstel und Antje Radcke von Aussenminister Fischer einen Tag vor dem Urnengang in Sachsen taten ihr übriges, und Renate Künast, die mitten in einem schweren Wahlkampf steht, wird auf das Personalkarussell gesetzt.

Joschka Fischers Verantwortung

Bündnis 90/Die Grünen haben als einzige Partei einen virtuellen Vorsitzenden, der sich auf Bundesebene noch keiner Abstimmung gestellt hat. Joschka Fischer hat seinen Anteil an den letzten schlechten Wahlergebnissen von Bündnis 90/Die Grünen. So ist schon die Niederlage bei der Landtagswahl in Hessen auf seinen Politikstil zurückzuführen. Wer nur deutscher, aber kein grüner Außenminister sein will, weiss sehr genau, daß er damit in einem zentralen Feld seiner Partei wertvolle grüne Profilierungsmöglichkeiten verspielt.

Sich als Retter der Partei in schweren Zeiten zu inszenieren und nach Belieben auf- und abzutauchen reicht nicht. Hier zeigt sich die Arroganz der Macht. Es zeugt von fehlender Verantwortung gegenüber der Partei. Im eigenen Interesse immer wieder eine Strukturdebatte innerhalb der Partei anzuzetteln und dies als Allheilmittel gegen Wahlniederlagen zu
verkaufen, zeugt von wenig Realitätssinn. Die eigene Mitarbeit, die für jedes Parteimitglied selbstverständlich ist, von einer Strukturreform abhängig zu machen, ist pure Erpressung. Die Menschen wollen von Bündnis 90/Die Grünen keine Strukturdebatte, sondern stichhaltige grüne Konzepte für den sozial-ökologischen Umbau unserer Gesellschaft.

Die Aufgaben für die Linke

In den nächsten Monaten wird es gerade für die Linke von zentraler Bedeutung sein, die unterschiedlichen Kräfte zu bündeln. Trotz verschiedener Schattierungen muss es vor allem beim Strategietreffen am 3. Oktober darum gehen, eine gemeinsame und klare Strategie zu entwickeln, die auch eine Wirkung ausserhalb der Parteigrenzen entfalten
kann. Gerade wir als junge Linke in der grünen Partei wollen nicht nur mit theoretischem Anspruch, sondern vor allem über machbare linke Politik diskutieren. Dazu bedarf es mehr als klassischer linker Rhetorik. Wir brauchen Debatten, die geeignet sind, gerade auch junge Menschen für linke Politik zu begeistern.

Die letzten Wahlergebnisse zeigen deutlich, welche Konsequenzen es hat, wenn Bündnis 90/Die Grünen ihre ursprüngliche gesellschaftliche Funktion nicht mehr wahrnehmen. Sie verlieren dauerhaft ihre StammwählerInnen und
drohen im politischen System marginalisiert zu werden.

Wenig hilfreich ist es, bei Wahlniederlagen immer nur auf Vermittlungsprobleme zu verweisen und die Augen davor zu verschließen, daß die Ursachen woanders liegen. Bündnis 90/Die Grünen haben kein Kommunikations-, sie haben ein Politikproblem.

Das nicht eingelöste Versprechen und seine Folgen

Die Themen, die Bündnis 90/ Die Grünen ihre Existenzberechtigung verleihen, drohen systematisch aufgegeben zu werden. Mitglieder sowie WählerInnen wollen Erfolge sehen, nämlich Erfolge beim Atomausstieg, Erfolge bei der Schliessung der von Kohl hinterlassenen Gerechtigkeitslücke und Erfolge bei der zivilen Aussenpolitik. Hier ist die Aufgabe der Partei, gesellschaftliche Probleme zu erkennen und zu lösen. Sie darf sich nicht in einem inhaltslosen Schlingerkurs verlieren, der in die sogenannte Neue Mitte geht. "... Eine kühne parteipolitische Neupositionierung im Sinne einer inhaltlichen Rechtsverschiebung der Partei" verspricht wenig Erfolg und ist "mit so hohen Risiken behaftet, dass die Grünen daran zerbrechen oder zugrunde gehen könnten" (Prof. Jürgen Falter, FAZ, 31.8.99).

Es geht aber nicht nur um grüne Wahlverluste, sondern vor allem um die Menschen, die enttäuscht sind und deshalb nicht mehr wählen gehen. Rot-Grün droht zum Katalysator der Nichtwählerpartei zu werden. Die Mehrheit hat sich im September 1998 für einen Politikwechsel entschieden. Dieser Politikwechsel ist bisher nicht eingetreten. Bündnis
90/Die Grünen haben keinen reinen Machtwechsel, sondern einen Politikwechsel versprochen, für den wir in der Verantwortung stehen. Wir machen uns überflüssig, wenn wir es nicht schaffen, die Versprechen einzulösen, die wir zum sozial-ökologischen Umbau der Gesellschaft gegeben haben.

Die rot-grüne Koalition selbst hat in den letzten zwölf Monaten dafür gesorgt, dass sie in schweres Fahrwasser geraten ist: Angefangen bei dem halbherzigen Versuch, die doppelte Staatsbürgerschaft einzuführen, über den misslungenen Einstieg in den Atomausstieg per Atomgesetz und den militärischen Einsatz in Kosovo und Jugoslawien bis hin zu den langwierigen Gesprächen im Bündnis für Arbeit, die bisher nicht die gewünschten Ergebnisse gezeigt haben. All das hat dazu geführt, dass die Zustimmung der WählerInnen zur Politik von Bündnis 90/Die Grünen
besorgniserregend abgenommen hat.

Am Beispiel der Umweltpolitik wird deutlich: Wer Ökologie nur noch unter Restlaufzeiten und der Liberalisierung des Strommarktes subsumiert und technokratisch sieht, darf nicht erwarten, daß ehemalige grüne WählerInnen mit ökologischem Bewußtsein an die Wahlurne mobilisiert werden.

 

Grüne Perspektiven

Die zentralen Fragen, die sich die BürgerInnen stellen, lauten: Welche gesellschaftliche Funktion haben Bündnis 90/Die Grünen? Und: Was für Gründe gibt es, grün zu wählen?

Mehr Selbstbewußtsein

Die Durchsetzungsfähigkeit der Grünen innerhalb der Regierung liesse sich entscheidend erhöhen, wenn intensiver mit Gruppen und Initiativen ausserhalb der Partei zusammengearbeitet würde. Ausserdem müssen Bündnis 90/Die Grünen ihre Inhalte innerhalb der Koalition viel selbstbewusster vertreten als bisher. Grüne waren immer in den Politikfeldern besonders stark, in denen sie es schafften, die Forderungen der gesellschaftlichen Bewegungen, die ihr nahe stehen, in die Parlamente zu transportieren und zum parlamentarischen Arm einer Bewegung zu werden. Dies ist bei einer Regierungsbeteiligung nur noch schwer möglich. Die Partei muß deshalb eine andere Funktion als Fraktion und MinisterInnen einnehmen. Ein politischer Einheitsbrei sorgt für grüne Konturlosigkeit, wir brauchen weniger vorauseilenden Gehorsam und mehr strategische Rollenverteilung.

Wieder gesellschaftliche Bündnisse schließen

Das heißt, dass die Bundestagsfraktion beispielsweise ein Gespräch mit Arbeitsloseninitiativen nicht nur am Rande pro forma organisieren sollte, sondern sie direkt in ihre Arbeit einbezieht, vor allem, wenn diese nicht am Verhandlungstisch des Bündnisses für Arbeit sitzen. Wir vertreten andere gesellschaftliche Gruppen als diejenigen, die von den Wirtschaftsverbänden repräsentiert werden. Grüne müssen Partei für sozial Schwache ergreifen, da diese sonst keine Lobby haben.

Es geht nicht nur um die Einbindung in parlamentarische Arbeit, sondern um intensive Kommunikation grüner Politik: Grüne Erfolge in der Regierungspolitik sind klar zu benennen, aber auch Mißerfolge dürfen nicht schön geredet werden. Dazu gehört gerade nach einem Jahr Rot-Grün eine ehrliche Bilanz der Regierungsarbeit zu ziehen und diese mit dem gesellschaftlichen Umfeld zu reflektieren.

Bündnis 90/Die Grünen müssen sich verstärkt seit dem Beginn der Regierungsbeteiligung darauf konzentrieren, sich auf die Suche nach gesellschaftlichen Bündnispartnern zu begeben und diese vor allem so an sich zu binden, dass grüne Projekte durchsetzungsfähig werden und strategisch günstige Ausgangspunkte für parlamentarische Initiativen
gesetzt werden können. Beim Atomausstieg hätte die Parteispitze in der Lage sein müssen, einen intensiven Dialog mit der Anti-Atom-Bewegung zu führen. Bei der doppelten Staatsbürgerschaft zeigte sich deutlich, dass die Grünen nicht mehr kampagnenfähig sind, während sich die CDU eines klassisch grünen Mittels zur Mobilisierung der BürgerInnen bediente.
Bündnis 90/Die Grünen waren nicht in der Lage, eine Gegenstrategie gegen die populistische Kampagne der CDU zu entwickeln. Das sind nur zwei Beispiele für die strategische Bedeutung von gesellschaftlichen BündnispartnerInnen. Wir müssen uns aber vor allem konzeptionell in die Lage versetzen, erneut bündnis- und kampagnenfähig zu werden. Dabei müssen wir berücksichtigen, daß sich die Formen der BürgerInnenbewegung verändert haben.

Die Bündnisgrünen im Osten haben geglaubt, mit stromlinienförmigen Inhalten und institutionalisierten Stil Erfolg haben zu können. Nötig wäre im Osten, eine linke Antwort zu geben. Das heisst soziale Gerechtigkeit, Emanzipation und Antimilitarismus zu betonen, um langfristig eine Kräfteveränderung und ein kritisches Korrektiv der realen Regierungspolitik zu werden.

Neue Bündnisse mit Gewerkschaften und Initiativen, aber auch anderen gesellschaftlichen Gruppen, erfordern eine deutlich linke Positionierung der Partei und eine Fokussierung auf Kernthemen. Über Zweidrittel der rot-grünen WählerInnen haben die alte Bundesregierung abgewählt, weil sie ihr nicht zutrauten, soziale Gerechtigkeit herzustellen und eine Energiewende herbeizuführen. Dies bedeutet für Bündnis 90/Die Grünen, daß sie sich der sozialen Frage stellen und diesem Thema einen besonderen Stellenwert einräumen müssen. Neben der Kompetenz, die Bündnis 90/Die Grünen in Umweltfragen von den BürgerInnen zugesprochen wird, ist es an der Zeit, Kompetenz und Glaubwürdigkeit in der Sozialpolitik zu entwickeln und diese stark in den Vordergrund zu stellen. Dazu gehört auch, dass sich die Bundestagsfraktion konzeptionell mit der Besserstellung der SozialhilfebezieherInnen und Erwerbslose beschäftigt. Bei der Diskussion um das Sparpaket nützen Beteuerungen nichts, wenn zwar Familien mit Einkommen entlastet werden, aber Familien, die Sozialhilfe beziehen oder erwerbslos sind, nichts von Kindergelderhöhung und Steuerreform haben. So erreicht man kein sozialpolitisches Profil.

Daraus ergibt sich für uns die Schlussfolgerung: es muss eine politische Kurskorrektur geben. Dazu sind vier Punkte wichtig:
1. Wir wollen mehr eigenständiges Handeln der Partei gegenüber der Fraktion
2. Wir fordern ein selbstbewusstes Auftreten der grünen Bundestagsfraktion
3. Wir fordern grüne Kernbereiche in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik im Sinne sozialer Gerechtigkeit neu zu entwickeln
4. und wir wollen das vorhandene gesellschaftliche Potenzial für neue Bündnisse nutzen.

Christian Simmert MdB
Ilka Schröder MdEP
Ramona Pop, Landesvorstand GAJB NRW
Andreas Gebhard, Sprecher GAJB
Astrid Rothe, Landesvorstand Bündnis 90/Die Grünen Thüringen
Corinna Rüffer, Kreisvorstandssprecherin Trier-Saarburg
Tilmann Holzer, AstA Universität Mannheim
Simon Schunk, BAG Hochschule Bündnis 90/Die Grünen
Jörg Prante, Mitglied SprecherInnenrat grün-alternative Hochschulgruppen
Sven Metzger, Mitglied Vorstand GJB Rheinland-Pfalz


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