Date sent: Thu, 20 May 1999 00:24:02 -0700
From: Friedemann Greulich <friede@chem.agr.hokudai.ac.jp>
Organization: Hokudai
Subject: Links/Rechts oder Oben/Unten (Re: Elmar Altvater rechnet mit der Kriegspolitik der GRÜNEN ab)

Liebe Freunde der Naturwissenschaftler-Initiative und der Basis-Grünen.

Dem Brief von Elmar Altvater (Kopie am Ende) ist an Analyse bezüglich
Kosovo/NATO/Grüne nicht viel hinzuzusetzen. Für mich, als parteilosen
Wissenschaftler und deutschen Weltbürger stellt sich die Frage nach dem
"was nun" noch etwas anders.
Eine meiner Schlußfolgerungen vorwegnehmend halte ich eine neue grüne
Organisationsform mit einem neuen parlamentarischen Arm für notwendig
und aussichtsreich und werde das im Folgenden versuchen zu begründen.

Bielefeld hat mir einmal mehr gezeigt, daß bei den gegenwärtigen
wirtschaftlichen, demographischen, demokratischen und medienpolitischen
Verhältnissen im "reichen Drittel der Welt" mit nationalstaatlicher
Parteipolitik kaum grundlegender Wandel erreichbar ist - solange sich
nicht von außen her der wirtschaftliche oder finanzielle Rahmen
dramatisch ändert.
Die Grünen in Deutschland wären von allen Randbedingungen her
prädestiniert gewesen für einen substantiellen Vorstoß, zumindest in der
alles andere überragenden Friedensfrage. Machtpolitisches Kalkül hat zum
Gegenteil geführt.

Das Projekt "Nachhaltige Menschheit" wird innerhalb einer Generation zur
Existenzfrage unserer gegenwärtigen, noch immer rudimentären
Zivilisation. Doch Sozialisten, Sozialdemokraten, Liberale oder
Konservative usw. können auf nationaler Ebene (ebenso wie die
Regierungen auf der globalen) scheinbar nicht anders, als gegenseitig
jeden grundlegenden Lösungsansatz (und sogar die ehrliche Diskussion
darüber) durch die Verteilungskämpfe ihrer jeweiligen Klientel zu
blockieren.

Eine Ausnahme schien die grüne Bewegung zu sein. Die programmatische
Konzentration auf langfristige, altruistische Themen von lokaler wie
globaler Bedeutung schuf eine Kraft jenseits des tagespolitischen
Gemauschels. Das Verhängnis kam mit dem Drang in die nationalen
Parlamente, die doch keines der grünen Themen wirklich lösen können.
Statt dessen hat der Versuch einer "kompletten" tagespolitischen
Programmatik und der realpolitische Machtkampf zur Verwässerung der
Kernthemen und zu fortschreitender Korrumpierbarkeit in der Hierarchie
geführt.
Nach Bielefeld könnte nun eine Neuorientierung einsetzen. Neben dem
Ausbau der teilweise sehr erfolgreichen lokalen Kompetenz und
Mitbestimmung halte ich die Konzentration auf die Entwicklung im (bisher
sehr bescheidenen aber durchaus vielversprechenden) europäischen und
globalen Sektor der NGO's, Weltförderalisten, thematischen Netzwerke
(Ärzte, Ökonomen, Wissenschaftler, Völkerrechtler, UN-Reformer,
Religionen) bis hin direkt zur UNO künftig für entscheidend. Auf dieser
Ebene liegt der Ansatzpunkt für globalen Wandel und zwar nicht durch die
nationalen Interessenvertretungen hindurch (das ist völlig illusorisch!)
sondern im besten Falle an ihnen vorbei. Ein "Dagegen" wird sich
allerdings nicht ganz vermeiden lassen, kann aber schon rein theoretisch
nur öffentlich, über die unterste demokratische Ebene (das Wahlvolk)
erfolgen. Bevor in einem relevanten nationalen Parlament eine waschechte
Grüne Partei stark genug werden könnte, um grundlegenden Wandel
durchzudrücken (und dann nicht an den Machtkonstellationen der
Nachbarländer zu scheitern), da müßte schon der totale Ökokollaps direkt
zur Tür hereinbrechen.
Und trotzdem halte ich parlamentarische Arbeit, eine neue Partei ("Grüne
Weltförderalisten Deutschlands", "Global Grün 2000" oder sonst was
Schönes), für sinnvoll, notwendig und aussichtsreich: einerseits wegen
der gängigen Medienwirklichkeit und der traditionellen Wahrnehmungsweise
der Mehrheit der Menschen und andererseits wegen der effektiven
Mitarbeit an Sachthemen in Gremien, Kommissionen und bei der
Gesetzgebung. Eine Regierungsbeteiligung sollte aber auf lange Sicht am
besten mit Hinweis auf die langfristige, übernationale Programmatik
ausgeschlossen werden. Nicht die Regierungsfähigkeit und Kompetenz zur
ganzen Breite der Tagespolitik ist das Leitmotiv, sondern die
Konzentration auf Kernthemen wie z.B. Umwelt, ökologische
Landwirtschaft, internationale Kooperation, UNO-Reform usw. Dadurch wäre
automatisch auch die Tabu-Zone zu schwarzer oder dunkelroter
Zusammenarbeit erledigt. Es geht immer konkret und direkt um Sachfragen.
Die indirekte Macht durch den öffentlichen Druck auf die übrigen
Parteien war auch bisher schon viel wirksamer als das, was die grüne
"Realpolitik" auf nationaler Ebene erreicht hat.
Beim "Wahlvolk" wird sich der "mangelnde Wille zur Macht" oder das
"Klammern an die Oppositionsbank" (oder wie auch immer die Schlagzeilen
lauten mögen) wahrscheinlich nicht negativ niederschlagen. Ich könnte
mir vorstellen, daß mit dem weiteren Fortgang des Balkankrieges ein
enormer Sog auf die Mitglieder der alten Grünen Partei entsteht. Genauso
würde eine "echte" Grüne Partei künftig parallel zu dem leider
unvermeidlich drückender werdenden globalen Problemkomplex neben den
traditionellen Grünwählern auch mehr und mehr Zulauf vom gesamten
politischen Spektrum erhalten.

Aus der langfristigen Perspektive zeigt sich in der amerikanischen wie
auch der deutschen Außenpolitik (z. B. auf dem Balkan) jenseits aller
Regierungswechsel und öffentlichen Erklärungen eine üble Traditionslinie
der finstersten Art, die parallel zur offiziellen Politik rücksichtslos
geopolitische Ziele und wirtschaftliche Interessen durchdrückt -
notfalls über Leichen hinweg.
Es läßt sich nur darüber spekulieren und wird sich wohl nie völlig
aufklären lassen, wo die Grenzen verlaufen zwischen den Getäuschten, den
Mitwissern und den Drahtziehern und was alles an schmutzigen Geschäften
im Komplex Waffenhandel, Drogen, Menschenhandel, politischem Mord und
Geldwäsche innerhalb oder außerhalb des Einflusses der "regulären"
Geheimdienste abläuft.
Das Ausmaß all dessen, ob und wieweit dabei organisatorische Strukturen
eine Rolle spielen oder eine lose Hierarchie der Stärke wirksam ist, ist
(mir zumindest) völlig schleierhaft. Vielleicht ist das auch gar nicht
wesentlich. Ob hinter Bomben und Farbbeuteln letztlich die gleiche Hand
oder nur die gleichen verkorksten Anschauungen stecken läuft auf das
selbe hinaus - sie wirken in die selbe Richtung (Qui bono - wem nützt
es?).

Klar scheint zu sein, daß es sich dabei um ein extrem starkes Tabu
handelt. Die Mehrheit hat verständliche Angst, den wahren Quellen, dem
wahren Preis und den häßlichen Auswirkungen unseres Wohlstandes und
seiner Stabilität auf den Grund zu gehen. In Amerika gibt es schon eine
gewisse Inflation der Verschwörungstheoretiker, die die raren Fakten
unter Bergen von Unsinn begräbt. Für andere mag das "Spinner-Label"
sogar ein Schutz sein. In Europa sind große Teile der Bevölkerung von
derartigen Themen noch völlig "unbelastet", doch der Kosovo-Krieg hat
auch da die Sensibilität erhöht. Wahrscheinlich handelt es sich auch
dabei um ein globales Problem, daß nur im Zusammenhang mit den anderen
gelöst werden kann.

Ich bin auf diesem Gebiet wahrlich nicht sehr bewandert. Doch bin ich
sicher, daß grüne Politik, ob sie will oder nicht, jeder Form
hierarchischer undemokratischer Machtstrukturen entgegensteht - und dies
einkalkulieren muß.
Derartige Gespinste frontal anzugehen ist undenkbar, will man sich nicht
auf deren Mittel und Methoden einlassen. Genauso halte ich es für
illusorisch, erst in entsprechende Positionen vordringen zu wollen, um
so etwas von oben runter oder "von innen her" aufräumen zu wollen. Schon
deswegen denke ich, daß grüne Politik im Wesentlichen eine globale
Bewegung sein sollte, die sich nur direkt auf die jeweils lokale Basis
stützt. Alte Machtstrukturen zerfallen von innen her, wenn ihnen der
Boden entzogen wird und nicht, weil sie bekämpft werden. Darüber hinaus
wäre es sicher hilfreich, wenn die neuen Grünen von vornherein so
arbeiten würden, daß sie für Machtmenschen und Karrieristen unattraktiv
sind und bleiben.

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Herzliche Grüße
von Friedemann