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Gedanken zum Krieg 8. April 1999

Pyrrhus siegte ununterbrochen und verlor den Krieg, weil sein Angreifermotiv das Prinzip des Erhaltens seiner Gegner nicht überwinden konnte. Er hätte also entweder noch länger siegen oder sein Motiv aufgeben müssen. Es taugte nichts. Die NATO besitzt offenbar Kenntnisse, wie man Siege zubereitet, sie hat aber offenbar keinerlei Kenntnis, wie man einen solchen Krieg beendet. Nur aus einer Kenntnis der möglichen Beendigung des Krieges aber kann man ihn anfangen. Ohne diese Kenntnis lassen sich Siege und einzelne Kampfarbeit nicht bilanzieren.

Im Krieg geht es darum, den Gegner zur Aufgabe seines Willens zu bringen, d.h. diesen zu vernichten, entscheidend zu treffen, zu durchstoßen, zu zerhacken, gewissermaßen "gewaltmäßig zu verarbeiten". Tatsächlich besteht der Gegner aus Kriegführenden, die einmal als Kinder aufgewachsen sind, einer Kultur, Kampfgründen, Hilfsmitteln. Was die Vorstellung vom Kriege und Wahrnehmung des Gegners angeht, unterliegt diese einer Beugung der gesamten Wahrnehmungskraft. Der Gegner wird in den verschiedensten Weisen denaturalisiert, also verdinglicht. Die Wahrnehmung beugt die Realität des Gegners zurück bis zum toten Ding.

Wo die Entscheidung fällt, befindet sich der Gegner nicht! Der Kampf Mann gegen Mann ist die Blockierung der Bewegung.

Das Bomberkommando tritt in keiner Berührung mit dem unten bombardierten Gegner; ja die Zivilbevölkerung, für den Piloten unsichtbar in den Kellern, ist aber nicht der Gegner, hat keine Machtmittel, sich als Gegner zu verhalten. Der Gegner ist aber kein toter Gegenstand, sondern besteht aus einigen Millionen Leben, die eigene Gesetzmäßigkeiten entfalten, die die NATO überraschen werden, wenn sie sie nicht kennt.

Im Kriege, so Clausewitz, muß ich dem Gegner den Willen nehmen und ihm den Willen meiner Kriegspartei aufzwingen. Im Kern geht es um einen Kampf am Motiv des Gegners. Alles andere, seine Waffen, seine Provinzen, seine Hilfsmittel, ja seine Hauptstadt, wird Nebensache, wenn ich dadurch nicht das Motiv, seinen "Willen" treffe. Dieser Gegenstand ist das genaue Gegenteil des Verdinglichungsprozesses am Gegner.

Gegenstand der kriegerischen Wirkung sind die Motive des Feindes. Diese haben für das Gesamtkollektiv ihren Sitz nicht im einzelnen Kopf, sondern in den Beziehungen zwischen allen Einzelnen, die unter Disziplin, gemeinsame Vorstellung von Sinn und Notwendigkeit des Kampfes den Einzelwillen subsumieren. Dieses Beziehungssystem ist aber ein Gegenstand, der sich nur indirekt treffen ließe. Da alle Waffensysteme sich als Dinge äußern, besteht die Ablenkung, daß sie Dinge treffen; diese sind aber nicht der wirkliche Gegenstand der kriegerischen Aktion.

Der Krieg ist ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen. Es geht um die Vernichtung des Willens, d.h. der Autonomie des anderen. Der Gegenpol dazu wäre die Herstellung der Autonomie oder des Willen des anderen.

Zunächst ist der Krieg nichts als erweiterter Zweikampf. Daraus ergeben sich drei notwendige Wechselwirkungen, das sog. erste, zweite und dritte Äußerste. 1. Der Krieg ist ein Akt der Gewalt, und es gibt in der Anwendung derselben keine Grenzen. Das ist das erste Äußerste. 2. Ich bin also nicht mehr Herr meiner, sondern der Gegner gibt mir das Gesetz, wie ich es ihm gebe. Das ist das zweite Äußerste. 3. Es geht um die Größe der vorhandenen Mittel und die Stärke der Willenskraft, die beiden Faktoren dieses Produkts lassen sich nicht trennen. Dies ist das dritte Äußerste. Die absolute Logik des Krieges führt also theoretisch an jedem Punkt zu einer äußersten Anstrengung der Kräfte, in grenzenloser Gewalt, und dieses nach keinem anderen Prinzip als dem der Vernichtung, das alle anderen Prinzipien sich unterordnen. Wäre ein solcher Krieg wirklich möglich, so würde er letztlich sein Ende mitvernichten.

Unter wirklichen Verhältnissen ist der Krieg mit seinem Resultat nie etwas Absolutes. Es kommen die Reibung der wirklichen Verhältnisse, unvollkommene Einsicht des Falles, Zufall, Wahrscheinlichkeiten, die subjektive Natur des Krieges ins "Spiel". Auf das Element der Gefahr antwortet z.B. Mut, Wagen, Vertrauen auf Glück, Kühnheit, Verwegenheit.

Die Orte im Kriege, das Gelände, die Flüsse, die Weite der Kontinente, die Enge von Sperren, sind Bestimmungen des Wirkungsraums. In klassischen Kriegen haben schon Landschaften ganze Armeen besiegt.

Erfahrene kapitalistische Praktiker müßten nicht, wie in früheren Zeiten, davon überzeugt werden, daß Kriege ihrem langfristigen Interesse schaden, wenn es schon nicht hilft, ihnen darzulegen, daß sie unmoralisch sind. Sie würden von sich aus bestätigen, daß sie nach einfachsten Produktionskategorien unmöglich sind, schon weil eine Kriegsproduktion, wie sie noch im Zweiten Weltkrieg die unterliegende Seite bis Ende April 19945, zuletzt in Höhlen, aufrechterhielt, in einem modernen Krieg nicht mehr stattfände. Kriege ohne Kriegsproduktion sind aber kurzfristig verpufft. Die vorbereitete Munition war 1914 bis Ende September verschossen.
Die fortgeschrittene Produktivität der Kampfmittel hat das Schlachtfeld allmählich entleert. Entscheidend werden die Bewegungen, die die Form eines Fernkampfes haben; deshalb tritt der Nahkampf nicht aus der Welt, er ist aber selten Grund für die Entscheidung. Wie sich das verhält, kann man sich am besten vorstellen, wenn man im Auge behält, daß das die militärischen Konventionen durchbrechende Prinzip des Partisanenkriegs darauf beruht, nicht die Entscheidungsschlacht zu suchen, vielmehr als Gegner ungreifbar zu sein. Was ist der Zweck der Verteidigung? Erhalten. Erhalten ist leichter als Gewinnen... Worin liegt aber die größere Leichtigkeit des Erhaltens oder Bewahrens? Darin, daß alle Zeit, welche ungenutzt verstreicht, in die Waagschale des Verteidigers fällt. Die verteidigende Form des Kriegführens ist an sich stärker als die angreifende. Eine Partisanenarmee gewinnt, wenn sie nicht vernichtet wird; eine Invasionstruppe verliert, wenn sie nicht gewinnt. Habe ich einen Grund, etwas, wovon ich lebe, zu erhalten, so ist die Verhinderung der Trennung davon stärker als die Begierden eines Agressors, der abstrakte Gründe für seinen Angriff hat.


Ein Element der Faszination des Krieges besteht offenbar darin, daß die in Ohnmacht versetzten Individuen durch eigene Aktivität diesen Ohnmachtszusammenhang zu durchbrechen versuchen. Wenigstens für Momente fühlen sie sich als einzelne aktiv Beteiligte am Geschichtsgeschehen. Dieser enge Berührungskontakt mit der Geschichte, der sich dann auch in der Erinnerung des Einzelnen als besonders intensiv niederschlägt, zeigt sich allerdings im Resultat als eine völlige Umkehrung von Macht und Ohnmacht. Diejenigen, die durch die Geschichtsbeteiligung ihre Ohnmacht überwinden wollen, erfahren den Krieg als etwas, was sie in viel konzentrierterer Form in ihrer Ohnmacht bestätigt.

In einem Brief an Einstein aus den dreißiger Jahren entwickelte Sigmund Freud einen abgründigen Gedanken: Warum, fragt er, beharren gerade diejenigen, deren guter Wille sich mit Kontinuität gegen das Ausbrechen von Kriegen wendet, in ihren Antikriegskämpfen auf einer Häufung von Mitteln der Moral und der Vernunft, wenn diese öffentlichen Kampfmittel gegen den Krieg doch offensichtlich machtlos bleiben und so zahlreiche Beobachtungen gerade dafür sprechen, daß die Zusammensetzungen der moralischen und vernünftigen Vermögen doch geradezu den Kriegsgrund in sich tragen. Sie möchten den Krieg abschaffen, wollen den Willen dieses Gegners vernichten, was doch umgekehrt der Begriff des Krieges ist: seinerseits jede gegen ihn gerichtete Kraft zu brechen. Ein Schritt, der nie versucht wurde, sagt Freud, liegt darin, dem Krieg seinen Willen zu lassen, sein Dasein anzuerkennen; weil nicht ausgeschlossen werden kann, daß damit Aufmerksamkeiten aus der Kultur entlassen würden, die den Krieg tatsächlich wirklich überflüssig machen.

Mehr: Negt/Kluge: Geschichte und Eigensinn, 1981