Folgen des NATO-Krieges gegen Jugoslawien
Eine unvollständige Auswahl aus Medien und Internet von Robert Levin

1. Folgen für die Gesundheit der Menschen und die Umwelt

Wie haben die NATO-Bomben Jugoslawiens Umwelt verseucht?
jW sprach mit Ulf Müller, Teilnehmer am Hilfskonvoi nach Jugoslawien
(von der »Initiative Frieden jetzt - Chemnitz«)

F: Als Sie sich mit dem Hilfskonvoi der Initiative »Frieden jetzt - Chemnitz« in Jugoslawien aufhielten, führten Sie auch ein Gespräch mit dem Technischen Direktor der »HIPO PetroHemija Pancevo«. Was war der Anlaß?

Dieses Gespräch fand auf Bitte des Direktors der Chemiefabrik in Pancevo statt, da aufgrund des Bombardements der Fabrik nicht absehbare Folgeschäden für Menschen und Umwelt entstanden, die aber bislang in der Öffentlichkeit so nicht zur Kenntnis genommen werden.

F: Was ist die Fabrik »HIP PetroHemija Pancevo«?

Diese Fabrik war eines der modernsten und größten petrochemischen Werke auf dem Balkan. Ihr ältester Betriebsteil wurde vor 20 Jahren gebaut, die zwei neuen Teilwerke entstanden vor etwa zwei Jahren nach amerikanischem und europäischen Standard. In ihm waren vor der Bombardierung etwa 3 000 Menschen beschäftigt, über die Hälfte der Produktion ging in den Export, weshalb die »HIP PetroHemia Pancevo« auch zu den wenigen jugoslawischen Firmen gehörte, die schwarze Zahlen schrieben. Ihre Produktpalette reicht von PVC-Erzeugnissen über Granulate bis hin zu Halbstoffen für die chemische Industrie. Auf keinen Fall gehörte sie zu den Militärzulieferern.

F: Gab es im Werk dennoch Vorkehrungen für den Fall der Luftangriffe?

Die einzige Vorkehrung, die überhaupt möglich war, traf der Direktor: Aufgrund der Gefährlichkeit der Stoffe, die sich zu Produktionszwecken auf dem Gelände der Fabrik befanden, erstellte er eine umfangreiche Liste, die durch einen genauen Lageplan mit den Standorten der gefährlichsten Tanks ergänzt wurde. Beides verschickte er mit Kriegsbeginn an die Regierungen der westeuropäischen Länder sowie an die NATO.

F: Mit welcher Reaktion?

Die Reaktion darauf erfolgte in NATO-Manier am 15. April um 22.40 Uhr in Form des ersten Luftangriffes auf die Chemiefabrik. Getroffen wurden genau diese Tanks, die der Direktor bei Kriegsbeginn als besonders gefährlich im Lageplan skizziert und eigentlich mit dem Ziel versandt hatte, eine Umweltkatastrophe zu verhindern. Das Bombardement traf den Betrieb in laufender Produktion, da nach Versendung der Schreiben keiner mit so einem Angriff gerechnet hatte. Die Bombardierung der Tanks hatte zusätzlich viele sekundäre Explosionen ausgelöst. In Folge des Angriffs waren hochgefährliche Chemikalien ausgetreten und die gesamte betriebliche Elektroversorgung zusammengebrochen, so daß die Produktion unkontrolliert zum Stillstand kam.

F: Wie begegnete die Betriebsleitung dieser Situation?

Zum einen versuchte sie, die getroffenen Tanks so gut wie möglich zu entleeren und in Kesselwagen umzufüllen, um sie dann vom Betriebsgelände zu entfernen. Das war allerdings kaum möglich, da die Eisenbahnlinien zur Chemiefabrik durch Bombenangriffe bereits unterbrochen waren. Aus diesem Grund setzte der Direktor gleich am 16. April ein zweites Schreiben auf, in dem er über die schleppende Entsorgung der bombardierten Tanks, über den Austritt hochgefährlicher Stoffe sowie zu erwartende Umweltschäden berichtete. Dieses Schreiben versandte er an über 1 000 Stellen, angefangen von den europäischen Regierungen, über Parteien, Umweltverbände, Wissenschaftler bis hin zur NATO.

F: Was passierte dann?

Daraufhin erfolgte postwendend am 18. April nachts 1.10 Uhr der zweite Luftangriff, in dessen Ergebnis auch noch die restlichen intakten Tanks mit Chemikalien bombardiert wurden. Als Folge traten große Mengen Schadstoffe unkontrolliert in die Luft aus, versickerten im Boden und flossen auch in die in unmittelbarer Nähe befindliche Donau, die tagelang von einem Teppich toter Fische bedeckt war. Den Witterungsumständen ist es zu verdanken, daß die Giftwolken nicht direkt über der 80 000-Einwohner-Stadt Pancevo und dem nur 17 Kilometer entfernten Belgrad mit zwei Millionen Einwohnern niedergingen. Außerdem wurde Pancevo so gut es ging evakuiert. Betroffen von den Giftwolken waren aber große Felder. Und ausgetreten sind immerhin etwa zehntausend Tonnen Chemikalien.

F: Eine Tatsache, die ja immerhin die UNO alarmierte.

Das stimmt. Etwa 14 Tage vor unserer Ankunft hielt sich eine UN-Delegation in Pancevo auf, mit dabei der UN-Bevollmächtigte für Umweltfragen, der Sudanese Bakary Kante. Diese Delegation zeigte sich zutiefst erschüttert über das Ausmaß der durch die Bombardements verursachten Schäden und sprach sogar von der größten Chemiekatastrophe der Menschheit, die nicht einmal mit den von Bhopal zu vergleichen sei, wo es immerhin 3 000 Tote in der ersten Nacht und 10 000 Tote in weiteren sechs Jahren gab.

F: Können Sie einige der gefährlichsten ausgetretenen Chemikalien und deren Folgeschäden benennen?

Konkrete Aufschlüsselungen fehlen natürlich, weil eine Analyse unter den Kriegsbedingungen nicht möglich war, jedoch gibt es einige Eckdaten, die schon für sich gesehen schockieren: Gut die Hälfte der ausgetretenen 10 000 Tonnen Chemikalien gehören zu Chlorverbindungen, die fast alle giftig sind. Besonders erschreckend ist die Tatsache, daß bei der Bombardierung große Teile Vinylchlorid verbrannten, wodurch Dioxin und Phosgen entstehen kann. Dioxin und Phosgen sind krebserregend, erbgutschädigend und in hohem Maße toxisch. Dioxin schädigt das Nerven- und Atmungssystem und ruft Leberschäden hervor. Tritt Vinylchlorid in den Boden oder in Wasser ein, wie in Pancevo geschehen, kann es besonders schwer abgebaut werden. Seine Halbwertzeit beträgt über zehn Jahre, wobei selbst die Abbauprodukte immer noch erbgutschädigend sind. Beim bisher bekanntesten Dioxinunfall in Seveso traten zwei Kilo aus, die zu einer Verseuchung von 1 800 Hektar Land führten. Wieviel Dioxin bei der Verbrennung der 10 000 Tonnen ausgetretener Chemikalien in Pancevo entstand, bleibt offen. Die Liste ausgetretener Stoffe ist lang. Um nur noch zwei zu nennen: Zum einen kam es bei der Verbrennung des Öls aus der Trafostation zum Auswurf hoher chlorierter Kohlenwasserstoffe, die an sich schon schädigend sind und deren schädigende Wirkung sich durch die Verbrennung noch erhöht. Zum anderen befand sich Quecksilber als Katalysator im Produktionsprozeß, das normalerweise den Kreislauf nicht verläßt. Beim Bombardement jedoch wurde das Lager mit 100 Tonnen Quecksilber getroffen. Ein Teil davon trat aus. Und zu Quecksilber braucht man wohl nichts zu sagen ...

F: Sind bei den Menschen, die vor Ort leben, bereits Umwelt- und Gesundheitsschäden zu registrieren?

Ich selbst litt während unseres gesamten Aufenthaltes unter Kopfschmerzen, brennenden Augen und ausgetrocknetem Hals. Solche Auffälligkeiten bestätigten uns auch Menschen in Pancevo und Belgrad. Viele berichteten auch vom Phänomen, daß alles, was in voller Blüte stand, ob Bäume oder die anstehende Ernte, mit einem Mal verwelkte und wie im Herbst verdorrte, regelrecht zusammenknorkelte.

F: Was passiert mit der zerstörten Fabrik?

Dort gibt es nur noch 100 Beschäftigte, die versuchen, die Anlage vorm weiteren Austritt von Chemiekalien zu sichern. Das Schockierendste für mich ist die Erkenntnis, mit welcher Skrupellosigkeit und Rücksichtslosigkeit nicht nur die gesamte Industrie, egal ob Militärlieferant oder nicht, sondern auch die gesamte Umwelt, also das Lebensumfeld von Menschen zerbombt wurde. Wäre es bloß ums Ausschalten von Produktion gegangen, hätte es in Pancevo beispielsweise gereicht, die Eisenbahnlinie zur HIP stillzulegen oder bestimmte noralgische Punkte wie im Belgrader Heizkraftwerk die Trafostation. Bombardiert wurden aber die Öltanks von Belgrad ebenso wie die Raffinerie von Pancevo, deren Brände mehrere Tage nicht gelöscht werden konnten. Dies zeigt, daß es um die nackte Zerstörung von Industrie und Lebensraum ging. Und nach den unzähligen Toten durch die Bombardements sind Folgetote durch Gesundheits- und Umweltschäden vorprogrammiert. Für die jugoslawische Bevölkerung geht der Krieg weiter. Denn wenn die wenigen Vorräte aufgebraucht sind, von denen man im Moment noch zehrt, werden Menschen in Jugoslawien verhungern, erfrieren, verdursten oder an schleichender Vergiftung zu Grunde gehen. Dieser Zustand, der jetzt als Frieden bezeichnet wird, ist faktisch keiner. Der heiße Krieg ist momentan nur in eine etwas kühlere Phase übergegangen.

junge Welt 21.06.1999
Interview: Annett Schwarz, Chemnitz


Am 12. Juni fand in Erfurt ein Kongress der Initiative "Mütter gegen den Krieg statt. Neben anderen äußerte sich dort der Arzt Siegwart-Horst Günther zum Thema
Verseuchung durch Kriegsmüll

Der wegen seiner Enthüllungen über die Folgen des Einsatzes von Munition mit abgereichertem Uran im Irak mit Mordanschlägen und juristischen Repressalien verfolgte Mediziner Prof. Siegwart-Horst Günther schilderte die Folgen des Einsatzes derartiger Munition in Jugoslawien. In Bosnien beispielsweise gebe es einen dramatischen Anstieg von Leukämie, anderen Krebsbildungen und von missgebildeten Neugeborenen. Selbst Tiere wären betroffen. Der Blutanteil in der Kuhmilch sei teilweise so hoch, dass sie für die menschliche Ernährung nicht verwendbar sei. Kälber würden ohne Haut an den Füßen, ohne Klauen oder ohne Zunge geboren. Bereits im November 1996 habe es Berichte gegeben, denen zufolge im ehemaligen Jugoslawien 1000 Kinder von dem durch Uran-Munition ausgelösten Golf-Kriegs-Syndrom befallen waren. 600 hätten in Krankenhäusern behandelt werden müssen. Eine britische Firma habe es mit Rücksicht auf die Gesundheit ihrer Mitarbeiter abgelehnt, diese Munition im Irak zu beseitigen.
Peter Liebers, 14.06.1999, Neues Deutschland, S. 3 (Beitrag "Regierungen machen Soldaten zu Straftätern")

Günther Schwarberg:
Lüge des Tages, 20. 5. 99
Zum Einsatz von Uranmunition durch die NATO in Jugoslawien erklärte das Ministerium von Joschka Fischer: "Dem Auswärtigen Amt ist bekannt, dass solche Munition im Kosovo-Konflikt zum Einsatz kommen kann. Es ist jedoch davon auszugehen, dass Gefährdungen für Mensch und Umwelt nicht auftreten." Amerikanische Uran-Munition ist nach Angaben der britischen Medizinzeitschrift "Lancet" (351, S. 657, 1998) ursächlich für die Zunahme von Leukämie-Erkrankungen bei Kindern im Golfgebiet auf das Vierfache. Auch andere Krebssarten haben ähnlich stark zugenommen, unter anderem Brustkrebs, Brochialkarzinom, Magenkarzinom. Nachdem das amerikanische Gesundheitsministerium lange bestritten hatte, dass Uran-Munition Ursache des Golfkriegssyndroms bei US-Soldaten sein könne, wird dies jetzt allgemein angenommen. (Neues Deutschland, 20. 5. 99) siehe auch http://www.dju-hh.de/wahrheit


2. Verlust der Glaubwürdigkeit Europas

Der uruguayische Schriftsteller und Publizist Eduardo Galeano ist enttäuscht über die Kriegsbegeisterung europäischer Intellektueller

Galeano äußerte sich zum Jugoslawienkrieg während des Internationalen Kongresses für Kultur und Entwicklung in Havanna, Kuba:
"Ich habe gedacht, dass die europäischen Intellektuellen in dieser Hinsicht zu einer größeren Meinungsvielfalt fähig wären. Aber ihr Applaus für den Krieg war fast einmütig. Für mich war es überraschend, dass man in der Welt von heute so leicht, so straffrei und so erfolgreich einen Krieg auslösen kann. Und die europäischen Intellektuellen begleiten dieses, nach meiner Ansicht, Verbrechen geradezu hingebungsvoll. Wahrscheinlich ist das ein Beweis mehr für die außergewöhnlichen Möglichkeiten der Manipulation und was man hier die Kultur der Gewalt, die das ausgehende Jahrhundert beherrscht, zu nennen pflegt. Dass man einen Krieg im Namen des Friedens vom Zaune brechen kann. Wenn das so weitergeht, werden das Pentagon und die NATO in den kommenden Jahren per Tombola auswählen, denn die Superproduzenten für militärisches Gerät brauchen dann und wann ein Opfer. Mich erfüllt mit Schrecken, wie leichtfertig die Welt den Austausch der Bösen akzeptiert. Der militärisch-industrielle Komplex braucht die Bösen zur Rechtfertigung seiner Existenz. Hier in Kuba ist für sie Castro der Böse. Und das Pentagon müsste ihm ein Denkmal stiften, denn er hat 40 Jahr lang als Vorwand und Alibi für die Kriegswirtschaft der USA gedient."
Die Welt zum Ende des Jahrhunderts spreche von Frieden, sondere aber Gewalt aus allen Poren aus. Und besonders skandalös sei, dass "die Welt in den Händen der Waffenfabrikanten ist". Die UNO? Da gebe, wenn überhaupt, der Sicherheitsrat den Ton an. Die anderen Staaten seien eine symbolische Fassade, ohne Entscheidungen herbeiführen zu können. "Und die Staaten mit Veto-Recht sind ausgerechnet die fünf größten Waffenproduzenten des Planeten. Sie ziehen den Nutzen aus Kriegen und machen mit menschlichen Tragödien Geschäfte."
... "Gegen die Indios Guatemalas wurde die grauenvollste ethnische Säuberung (mindestens 135.000 Tote) exekutiert, die Lateinamerika im 20. Jahrhundert erlebt hat - die USA bildeten die Henker aus, lieferten die Waffen, stellten die Berater zur Verfügung, Clinton sagte 'I'm sorry.' Warum hat sich das Weiße Haus nicht selbst bombardiert?" Überdies sei doch interessant, dass die nordamerikanischen Helikopter Apaches heißen. "Haben sie nicht auch etwas mit einer anderen ethnischen Säuberung in der Geschichte der USA zu tun?"

aus einem Beitrag von Leo Burghardt für das "Neue Deutschland" vom 16.06.1999


3. Wirtschaftliche Folgen des YUG-Krieges

Günther Schwarberg:
Lüge des Tages, 22. 5. 99
"Gefährdet der Kosovo-Krieg die Stabilitätsprogramme der EU-Staaten? Eine Studie der Deutschen Bank sieht vorerst keine dramatischen Auswirkungen." (Süddeutsche Zeitung 22.5.99). Serbien beziffert dagegen die bisher angerichteten Schäden auf 180 bis 200 Milliarden Dollar. Nach Vorstellungen von Finanzminister Hans Eichel muss Europa mit einer Art Marshallplan eingreifen, der mit dem Finanzvolumen der deutschen Vereinigung vergleichbar sei. Die USA haben erklärt, sich an den Kosten des Wiederaufbaus nicht beteiligen zu wollen, weil sie die "Hauptlast" des Krieges getragen hätten. Der gegenwärtige Zustand der jugoslawischen Produktion ist vergleichbar mit dem Stand am Ende des zweiten Weltkrieges nach den Zerstörungen durch die Wehrmacht. Keine große Anlage der chemischen Industrie, der Automobilindustrie und der Raffinerien ist mehr ber nutzbar. Alle großen Verkehrsverbindungen und alle wichtigen Donaubrücken sind zerstört. Der österreichische Finanzminister Rudolf Edlinger hat davor gewarnt, auf dem Balkan eine "infrastrukturelle Wüste Gobi" zu hinterlassen. EU-intern rechnet man damit, dass die jährlich veranschlagten drei Milliarden Euro für den Aufbau vor allem osteuropäischer Staaten nicht reichen werden.
siehe auch http://www.dju-hh.de/wahrheit

autorisierte Fassung vom 4. 6. 1999
Dialog von unten statt Bomben von oben!
Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter gegen den Krieg
Beginnend am Pfingstsonntag besuchte eine deutsche Gewerkschaftergruppe vier Tage lang Betriebe in Jugoslawien, um sich ein Bild von den Zerstörungen zu machen. Zu den zehn Mitgliedern gehören der Hamburger Schauspieler Rolf Becker und der Hannoversche Journalist Eckart Spoo
Tagesberichte aus Jugoslawien, 24.-28.Mai 1999

Von Rolf Becker (IG Medien) und Eckart Spoo (IG Medien/dju)

Der zwölfte Angriff
Auf der Fahrt nach Belgrad, Pfingsten, 23./24. Mai 1999
Ankunft in Novi Sad nach Mitternacht, um vier Stunden verspätet, weil ungarische Grenzpolizei den Bus aus Jugoslawien, der uns aus Budapest abholen sollte, abgewiesen hatte. Dem Fahrer gelang die Einreise dann über einen anderen Grenzübergang. Novi Sad liegt bei unserer Ankunft im Dunkeln, totaler Stromausfall, weil wieder einmal eine Graphitbombe der Nato ein Kraftwerk getroffen hat. Um 23 Uhr war Luftalarm gegeben worden, um 6 Uhr früh gibt es Entwarnung. Im Stadtgebiet von Novi Sad sind diesmal keine Bomben eingeschlagen, aber in 20 Kilometern Entfernung.

Zwei Kollegen des jugoslawischen Gewerkschaftsbundes, die beide jahrelang in Deutschland gearbeitet haben, begleiten uns ab jetzt. Wir besuchten die zerstörte petrochemische Fabrik. Sie liegt auf einem Gelände von etwa zwei mal zwei Kilometern. Elf Angriffe haben sie zum großen Teil zerstört. Der Schaden wird auf eine Milliarde US-Dollar beziffert. Hier und in dem zweiten petrochemischen Werk in Pancevo haben zwanzigtausend Menschen ihre Arbeitsplätze verloren. Ob die Fabriken je wieder aufgebaut werden können, wird sich erst nach Bodenuntersuchungen herausstellen, die Monate dauern. Wir werden vor dem Berühren der weit verstreuten riesigen Kesselteile und anderen Metalltrümmern gewarnt wegen Strahlungsgefahr durch Uranmunition (abgereichertes Uran).

In dem Arbeiterwohnviertel Detelinara besuchen wir eine Grund- und Hauptschule, die dreimal angegriffen wurde. Der Rektor kann sich die wiederholten punktgenauen" Angriffe auf seine Schule nicht erklären. In zwei benachbarten Wohnblocks sind viele Wohnungen zerstört. Ein 68jähriger Dreher berichtet uns, wie er in seiner Wohnung den Luftangriff erlebte und sich an einem Teppich aus dem Fenster abseilte, um die Kinder aus dem Keller zu retten. Er hat hier 33 Jahre gewohnt und regelmäßig mit einem Teil seines Arbeitseinkommens die Wohnung abbezahlt, bis sie sein Eigentum war. Jetzt hat er nichts mehr.

Ein Schaden von siebzig bis achtzig Millionen Dollar ist durch die völlige Zerstörung des modernen Fernsehsenders von Novi Sad entstanden, der ein wichtiges Glied der europäischen Fernsehkette war. Dieser Sender hat täglich Programme in sechs Sprachen ausgestrahlt und versorgte die zahlreichen ethnischen Gruppen. Seine Arbeit für die inter-ethnische Verständigung ist mit dem europäischen Fernsehpreis ausgezeichnet worden. Bei einem Treffen mit jugoslawischen Kolleginnen und Kollegen im Gewerkschaftshaus von Novi Sad erfahren wir, daß es in der Vojvodina bis zum Ausbruch des Krieges zwischen den 26 verschiedenen ethnischen Gruppen keine Zusammenstöße gegeben habe. Die systematischen Angriffe auf die Fernsehstationen können keinen anderen Zweck haben, als den Aggressoren die Propaganda-Oberhoheit zu verschaffen. Getroffen wird nicht nur die Informationsfreiheit der jugoslawischen Bevölkerung, sondern auch unsere, denn über die Opfer der Bombardements erfahren wir in Deutschland nicht durch die Nato, sondern meist nur durch das jugoslawische Fernsehen, wenn das deutsche von ihm Aufnahmen übernimmt.

Beim Übersetzen über die Donau, auf dem Weg zum Fernsehsender und den Fernsehstudios, erhalten wir einen Eindruck von den zerbombten Brücken. Die Donau ist hier 700 Meter breit. Unter der zerbombten "Freiheitsbrücke" verlief die Hauptwasserleitung, durch die Novi Sads südliche Stadtteile mit Trinkwasser versorgt wurden. Eine Folge ihrer Zerstörung ist, daß das über Jugoslawien hinaus bekannte herzchirurgische Zentrum von Novi Sad seine Arbeit einstellen mußte.

Die "Freiheitsbrücke" war nach dem Sieg über die deutsche Wehrmacht gebaut worden, die 1941 die alte Brücke zerbombt hatte, deren gemauerte Pfeiler heute noch wenige hundert Meter entfernt aus dem Wasser ragen.

Wir sind mit unserm Bus zwanzig Minuten unterwegs in Richtung Belgrad, als im Norden in etwa 25 Kilometern Entfernung hohe schwarze Rauchwolken aufsteigen. Aus den Radionachrichten erfahren wir, daß die Raffinerie, die wir vorhin besucht haben, wieder bombardiert wurde.


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Eine humanitäre Katastrophe
Kragujevac, 25. Mai 1999
In Belgrad haben wir uns ein Bild von den Folgen der Bombenangriffe machen können, z.B. der chinesischen Botschaft und der unmittelbar daneben liegenden Musikschule. Nach Mitternacht sind wir zur Belgrader Donaubrücke gegangen, auf der sich jeden Abend eine Menschenmenge versammelt mit der angesteckten Zielscheibe "Target". Es gibt Alarm, auf einmal stehen wir allein auf der Brücke. Die Menschen glauben nach all ihren Erfahrungen, daß die Nato-Piloten auch Brücken mit Menschen darauf bombardieren werden. Wir gehen die zehn Minuten zu unserm Hotel "Moskwa" im Zentrum der Stadt, ziemlich schnell, aber nicht in den Luftschutzkeller, sondern bleiben auf dem Zimmer, öffnen die Fenster und sehen zum Himmel hinauf.

Zehn Minuten vor 4 beginnt die Flak zu schießen. Es hört sich an wie Geprassel, bald näher, dann wieder ferner. In großer Höhe zieht ein sirrendes, leise pfeifendes Geräusch über uns. Die Maschinen fliegen in etwa 20 Kilometern Höhe über Belgrad.

Dann unerwartet der Einschlag, nahe, sehr hart metallisch, ganz anders als bei Bomben. Das Innenministerium ist getroffen, das schon einmal bombardiert worden war. Am nächsten Morgen sehen wir uns die Ruine des völlig zerstörten Fernsehsenders an. Ein Techniker, der das Bombardement trotz hohen Blutverlustes überlebt hat, erzählt uns, er habe wenige Minuten vorher die Etage, in der seine Kolleginnen und Kollegen getötet wurden, verlassen. Er habe alle gut gekannt. Aber sechs seien immer noch vermißt. Nichts sei bisher von ihnen gefunden worden, als seien sie durch die Hitze verdampft. 130 Kolleginnen und Kollegen des Senders wurden verletzt, einige sehr schwer. Sie liegen noch in den Krankenhäusern.

Unmittelbar am Sender liegt das Belgrader Kindertheater vor einer Kirche, auf der anderen Seite der Straße. Vom Kirchendach haben sie Leichenteile geborgen. Wir legen hier an der Ruine des Senders für die 16 Toten Blumen nieder, neben ein Schild mit dem Motto unserer Reise "Dialog von unten statt Bomben von oben".

Kragujevac, die Stadt der Zastava-Automobilwerke, ist seit der Bombardierung des Betriebes die Stadt der Arbeitslosen. Von den 200 000 Einwohnern haben durch die elf Angriffe auf das Werk 37 000 Beschäftigte ihre Arbeitsplätze verloren. Hinzu kommen die indirekt Betroffenen der Zulieferbetriebe, für deren Produkte es keine Abnehmer mehr gibt. Beim Begrüßungsgespräch im Gewerkschaftshaus schildert die lokale Vorsitzende Rusica Milsavljovic die Folgen der Bombardements für die Stadt und spricht von einer humanitären Katastrophe. Das Gespräch findet während eines Alarms statt. Wir nehmen wahr, daß sich die etwa 30 versammelten Zastava-Kolleginnen und Kollegen durch zwei entfernte Detonationen nicht irritieren lassen. Eine Frau zuckt die Achseln: "Wir versuchen, normal weiterzuleben."

Wir übergeben eine von unserer Initiative gesammelte Spende, 10 000 Mark. Nichts im Vergleich zu den Bombenschäden, aber unser Beitrag wird verstanden als Zeichen der Solidarität aus einem der Aggressorstaaten, dem Land, dessen Wehrmacht an diesem Ort vor einem halben Jahrhundert das größte Massaker in Jugoslawien während der deutschen Okkupation verübt hat. In der Gedenkstätte für die Opfer legen wir ein Blumengebinde nieder: "Den Opfern der deutschen Wehrmacht, der Nato und der Bundeswehr."

Am 21. Oktober 1941 wurden hier siebentausend Menschen, darunter 300 Schüler, klassenweise mit ihren Lehrern, als "Geiseln" erschossen. Ein Gedenkstein erinnert an den deutschen Soldaten, der sich weigerte, mitzuschießen und deshalb mit erschossen wurde.


Das Gelände der Gedenkstätte wurde gleich zu Beginn des Nato-Krieges getroffen, das Museum am 14. Mai durch eine in der Nähe einschlagende Rakete schwer beschädigt. Die Direktorin Slavica Kominac verweist auf die Symbolik einer durch Bombensplitter beschädigten Skulptur mit dem Titel "Der Faschismus ist überwunden". Sie erinnert an den Besuch des Museums durch Petra Kelly Mitte der achtziger Jahre, die ins Gästebuch schrieb, die Grünen würden sich dafür einsetzen, daß sich solche Verbrechen nicht wiederholen.

Bei der Renovierung des Museums soll ein Raum angegliedert werden, für die Dokumentation der Bombardements durch die Nato.

Wegen des andauernden Alarms müssen wir die Besichtigung des zertrümmerten Zastava-Werkes auf morgen verschieben. Es ist ein traumhaftes Sommerwetter, die Akazien verblühen gerade. Rote Mohnfelder in der Hügellandschaft, bunte Häuser in den Feldern, ein weiter Blick. Was für ein schönes Land! Hoch oben das Sirren von Flugzeugen. Sehr fern schießt die Flak.


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Wenn die schnellen Sterne kommen
Wieder in Belgrad, in der Nacht vom 26. zum 27. Mai 1999
Die Summe der bisherigen Eindrücke zeigt uns, in welchem Maße sich der Natokrieg gegen die Zivilbevölkerung richtet. Die Bombardements zerstören die Nervenzentren der Produktion und der Versorgung. Zum Beispiel Kragujevac, die Automobilfabrik Zastava: Die Trümmer des Werks werden zwar von den Arbeitern so gut wie möglich aufgeräumt, aber ohne jede Aussicht auf Wiederinbetriebnahme in absehbarer Zeit.

Die Aufräumzeiten sind extrem kurz. Als wir in den Hallen sind, kommt Alarm. Alle verlassen das Gelände, mehrere hundert Arbeiter, die mit den Aufräumarbeiten beschäftigt waren. Sie grüßen zurück, als wir sie mit dem Bus überholen. Auch das Kraftwerk auf dem Betriebsgelände ist irreparabel zerstört. Es hat auch die Stadt versorgt, mit Strom und Wärme. Die Bevölkerung fürchtet den Winter, denn die Wohnungen in den Hochhäusern haben keine Kamine für Feuerstellen.

Einige von uns besuchen die Familie Pavlovic. Vater Radomil, 52, hat 35 Jahre bei Zastava gearbeitet, Sohn Slobodan, 27, sechs Jahre. Beide sind jetzt arbeitslos. Die Mutter Milanka ist zuckerkrank. Ihr mußten am 7. April beide Beine amputiert werden, zwei Tage vor dem schweren Angriff auf Kragujevac. Wegen der vielen Schwerverletzten, die ins Krankenhaus aufgenommen werden mußten, wurde Milanka Pavlovic viel zu früh nach Hause entlassen. Bei Alarm und Luftangriffen muß sie in der Wohnung bleiben, weil der Lift bei Stromausfall nicht funktioniert und während der vielstündigen Alarmzeiten nicht benutzt werden darf. Ihre Beinstümpfe haben sich entzündet. Es fehlt an Medikamenten, wie überall in Jugoslawien infolge des Embargos. Spezialmedikamente wie Insulin müssen kühl gelagert werden, was aber nicht möglich ist, wenn der Kühlschrank keinen Strom hat.

Bei "Zastava" als staatlichem Betrieb besteht noch ein Selbsthilfenetz, das Privatbetrieben fehlt. Für den arbeitslosen Vater und seinen Sohn gibt es ein Arbeitsausfallgeld der Firma von 230 Dinar gleich 25 Mark im Monat. Es ist für drei Monate garantiert. Das Arbeitsamt zahlt monatlich 100 Dinar, also rund zehn Mark, zunächst für ein halbes Jahr.

Bei der Abfahrt aus Kragujevac sehen wir eine lange Menschenschlange vor einem Tabakladen. Die Ursache erfahren wir drei Stunden später in Nis (300 000 Einwohner). Hier ist die größte Tabakfabrik Jugoslawiens - 2500 Beschäftigte - total zerstört worden. 1995 hatte die Fabrik neue Maschinen vom Hersteller Hauni aus Hamburg gekauft.
Die Wasserpumpenfabrik in Nis - 1 500 Beschäftigte - wurde sowohl von Spreng- wie auch von Splitterbomben getroffen. Metallteile aus den Lagern des Werkes flogen bis zu einem Kilometer weit und durchschlugen Wände und Dächer von Wohnhäusern. Wegen der vielen Blindgänger aus Kassettenbomben wurde das Betriebsgelände gesperrt. Es ist fraglich, ob und wann in dem größten Pumpenwerk des Balkans wieder produziert werden kann, auch um die Lieferverträge mit Ägypten und den Golfstaaten zu erfüllen.

Im Industriegelände von Nis liegt ein Werk neben dem anderen in Trümmern. Auch die Technische Hochschule wurde beschädigt. Der Vizedekan der Fakultät für Elektronik - 2000 Studenten -, Professor Milun Jevtic, der in Bochum studiert hat, führt uns durch die verwüsteten Räume. Der Detonationsdruck hat Regale mit Büchern durch die Fenster geschleudert. Im Eingangsfoyer ist eine nicht explodierte Kassettenbombe ausgestellt, die 130 Splitterbomben enthielt. Studenten haben die Frage "Kada?" daraufgemalt - "Wann?" Von den amerikanischen Herstellern ist Januar 2005 als Verfallsdatum aufgestempelt. Wie in Nis sind in ganz Jugoslawien alle Schulen und Hochschulen des Landes seit Kriegsbeginn geschlossen.

Eine Brücke über die Nisava wurde am 9. Mai, dem Feiertag der Befreiung vom Hitlerfaschismus, so schwer getroffen, daß sie nur noch für Fußgänger und Radfahrer passierbar ist. Dabei wurde auch die Wasserleitung zum Stadtzentrum durchtrennt, das benachbarte griechische Konsulat und eine dahinterliegende Prothesenfabrik beschädigt. Die umliegenden Privathäuser sind nun unbewohnbar.

Eine Splitterbombe ging in der Mittagszeit auf dem Marktplatz von Nis nieder, 20 Menschen ÷urden getötet und 50 verletzt. Der örtliche Vorstand der Gewerkschaft berichtet von 1925 getroffenen Gebäuden, darunter 18 Schulen. Während unseres Besuchs schlagen drei weitere schwere Bomben in Nis ein.

In der kleinen Bergbaustadt Aleksinac erschüttert uns das Ausmaß der Zerstörung. Siebzehn Menschen sind bei einem Angriff getötet und 36 verletzt worden. 36 Häuser wurden dem Erdboden gleichgemacht. Allein in der Straße Dujan Trivunac sind 120 Wohnungen nicht mehr bewohnbar, die meisten ausgebrannt. Viele Menschen haben sowohl ihr Heim und ihren Hausrat als auch ihre Arbeit verloren. Das Bergwerk und viele kleine Betriebe liegen wegen Strommangels still. Die Einwohner sind vor allem auf die Hilfe von Jugoslawen im Ausland angewiesen. Der Vorsitzende der örtlichen Rotkreuzstation, Miodrag Vojnovic, teilt uns erbittert mit, daß das Deutsche Rote Kreuz seit Beginn des Krieges keine Hilfe mehr leistet. Immerhin haben wir unterwegs mehrere Lastwagen mit Hilfsgütern aus Griechenland und einen Truck aus Rußland gesehen.

Eins der vielen Kinder, die sich zu uns drängen, antwortet auf die Frage, was es den Verantwortlichen für die Bombenkriege sagen würde: "Ich kann nichts sagen, ich will nur schlafen." Die achtjährige Jana nennt die Flugzeuge am Nachthimmel "schnelle Sterne". In einem Luftschutzbunker hat das Serbische Rote Kreuz das Kindertheater "Smeschko" - Lächeln - eingerichtet. Die Kinder haben den Beton der Wände bemalt.. Vojnovic macht uns auf die Inschrift eines der Bilder aufmerksam: "Wir werden siegen, denn wir lieben unser Land, wir haben kein anderes."


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Auch die Fähren gibt es nun nicht mehr
27./28. Mai 1999
Am vorletzten Tag unserer Reise sehen wir in Belgrad immer neue Zerstörungen, hören immer mehr Flugzeuge und Detonationen. Wir erfahren in Gesprächen mit vielen Menschen, wie der Krieg das ganze Volk in seinen Würgegriff nimmt. Tomislav Banovic, der Vorsitzende des serbischen Gewerkschaftsbundes sagt, die materiellen Schäden nach 64 Tagen Nato-Bombardement seien bereits größer als alle Zerstörungen während des 2. Weltkrieges in Jugoslawien.

Viermal ist das Belgrader Krankenhaus Dr. Dragisa Misovic am Bulevar Mira (Friedensboulevard) von Nato-Bomben getroffen worden. Es ist benannt nach einer Ärztin, die von den Nazis erschossen wurde. Der stellvertretende Chefarzt Dr. Miodrag Lazic, dem es fernliegt, die massenmörderische Naziokkupation zu verharmlosen, erwähnt während unserer Begrüßung: "Hitler hat in Jugoslawien kein Krankenhaus getroffen."

Im Krankenhaus Dr. Dragisa Misovic ist die einzige jugoslawische Klinik für lungenkranke Kinder. Wir sehen zerborstene Mauern, die verbogenen Bettgestelle der kleinen Patienten, beschädigte medizinische Geräte, die sämtlich deutsche Fabrikate sind. Krankenschwestern suchen in den Trümmerhaufen nach Behandlungsberichten, die für die richtige Medikation der Langzeitpatienten unentbehrlich sind. Die Neurologie ist total zerstört, sie war vor kurzem renoviert worden. Alle 810 Patienten mußten evakuiert werden. Die meisten der 1200 Beschäftigten können ihre Aufgaben nicht mehr wahrnehmen.

Wir treffen uns mit verschiedenen Mitgliedern der bürgerlichen Opposition und aus gewerkschaftlichen Gruppen. Alle stimmen in dem Unverständnis für die Begründungen der Natoaggression überein. Hier einige Beispiele:

"Sind das die Menschenrechte, die wir jetzt von der Nato bekommen? Das erste Menschenrecht ist das Recht auf Leben."
"Durch die Bombardements ist die sich öffnende Gesellschaft wieder geschlossen. Der Krieg begünstigt erst die Entwicklung einer Diktatur."
"Es wird vielleicht wieder Strom geben, wenn wir die Nato reinlassen, aber wir verlieren Freiheit und Würde."
"Wenn der Westen weiterbombt, werdet ihr noch viel mehr Flüchtlinge bekommen, auch aus Serbien."
"Die Nato am Himmel, Milosevic am Boden - ohne Hoffnung und Hilfe sind wir wie in einem Sandwich. Zwei arrogante Mächte erdrücken uns von oben und unten."
Wissenschaftler und Vertreter der Grünen berichten uns über nicht absehbare ökologische und gesundheitliche Schäden durch die Bombardements der chemischen Werke und durch die Verwendung neuartiger Waffen. Professor Dr. Luka Radijar berichtet, daß der bisher ohnehin schon zu hohe Phosgengehalt der Luft in der Umgebung des petrochemischen Kombinats Pancevo durch die Bombardierung um das Zehntausendfache stieg. "Mein Enkelkind in einer Hochhauswohnung im 16. Stock hat kein Wasser, keinen Strom, und die Mutter hat keine Milch. Was hilft dieser Krieg den Albanern im Kosovo, dessen Dörfer und Städte dermaßen zerstört und vergiftet sind, daß dort auf lange Zeit kein Leben mehr möglich ist?"

Im Land wächst die Angst vor völliger Isolation, nachdem schon seit langer Zeit durch das Embargo z.B. wissenschaftliche Kontakte eingeschränkt sind. Mit Beschämung hören wir, daß wir als erste deutsche Gewerkschaftergruppe seit Beginn der 90er Jahre begrüßt werden. Daß der DGB alle Kontakte eingefroren hat, befremdet die jugoslawischen Kolleginnen und Kollegen. Das Hotelpersonal in Belgrad verabschiedet uns mit Tränen. Es sind Tränen der Angst vor der ungewissen, bedrohlichen Zukunft - "zeigt uns, daß wir nicht allein sind". Und hier, wie zum Schluß fast aller Gespräche: "Berichtet die Wahrheit."

Das Volk fürchtet, mundtot gemacht zu werden. Die Unterbindung der Satellitenübertragungen von Rundfunk- und Fernsehsendungen hat zur Folge, daß die Weltöffentlichkeit kaum noch etwas vom Nato-Terror erfährt. Die Abschnürung des Landes setzt sich dadurch fort, daß wichtige Informanten z.B. aus Gewerkschaften und Oppositionsgruppen keine Einreisemöglichkeit mehr in die Bundesrepublik bekommen. Unser Begleiter Sveta Vladisavljevic, der jahrelang in Deutschland gearbeitet hat - er war gewerkschaftlicher Vertrauensmann bei der DEMAG in Düsseldorf - wollte am 29. Mai nach Düsseldorf fahren, um den DGB-Vorstand zu informieren und um solidarische Hilfe zu erbitten. Die deutschen Behörden verwehrten ihm die Einreise.

Auf der Rückfahrt passieren wir noch einmal Novi Sad, wo wir am ersten Tag unserer Reise die zerstörten Donaubrücken gesehen hatten. In der letzten Nacht sind auch die Anlegestellen der Fährbooote, mit denen die Verbindung zwischen den Stadtteilen an beiden Ufern mühsam aufrechterhalten wurde, zerbombt worden.

Vor der Ausreise,
28. Mai 1999
"Dialog von unten statt Bomben von oben" - Ziel unserer Reise war es, Informationen aufgrund eigener Beobachtungen und unmittelbarer Kontakte mit Kolleginnen und Kollegen in Jugoslawien zu gewinnen und an unsere Kolleginnen und Kollegen in der Bundesrepublik Deutschland weiterzugeben. Wir wollten dazu beitragen, den gewerkschaftlichen Auftrag "Konflikte auf zivilem Wege ohne militärische Gewalt zu lösen" (DGB-Grundsatz-programm) zu verwirklichen. Auf den Stationen unserer Reise - Novi Sad, Belgrad, Kragujevac, Nis und Aleksinac - haben wir die Zerstörungen von Fabriken, Kraftwerken, Krankenhäusern, Schulen und Hochschulen, Wohnvierteln, Verkehrswegen und Brücken gesehen und in Gesprächen mit Beschäftigten zerstörter Betriebe, Ausgebombten, Rote-Kreuz-Helfern, Ärzten, Wissenschaftlern und Vertretern von Gemeinden und Gewerkschaften erfahren, was die Bombardements der NATO für die Menschen in Jugoslawien bewirken. Der "saubere Krieg" der NATO ist kein "Krieg gegen Milosevic", sondern ein Krieg gegen die Zivilbevölkerung. Die Zentren der Versorgung liegen in Trümmern, die Arbeitsplätze sind für Jahrzehnte vernichtet, die Gesundheit vieler Menschen in noch nicht abschätzbarem Umfang geschädigt, die Jugend ist ihrer Perspektive beraubt. Und ein Ende des NATO-Terrors ist nicht in Sicht.

Der Auftrag, den uns die Menschen mit auf die Heimreise geben, ist einfach:

Tragt dazu bei, den Krieg auch nur um einen Tag zu verkürzen. Laßt uns nicht allein.
Helft die Wahrheit über unsere Lage zu verbreiten.
Es wird schwer sein, diesen einfachen Auftrag umzusetzen. Wir bitten unsere Kolleginnen und Kollegen in Betrieben und Gewerkschaften und alle Menschen, die guten Willens sind, uns zu unterstützen. Wir fordern alle humanitären Organisationen in der Bundesrepublik Deutschland auf, die Not und das Leid der Bombenopfer zu lindern.

V.i.S.d.P. Rolf Becker (IG Medien) und Eckart Spoo (IG Medien/dju)

Spendenkonto: "Hilfe für Kragujevac" (Josef Bergmann)
Hamburger Sparkasse (BLZ 200 505 50) Kto.-Nr.: 1230 499 335

Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter gegen den Krieg
Kontakt: Rolf Becker (IG Medien Hamburg) Fax 040 - 280 32 14,
e-mail über h.artus@nikoma.de


4. Beschädigung des Ansehens internationaler Organisationen wie der OSZE

Unser Mann in der OSZE
Die Nato bombt sich in die erste Niederlage ihrer Geschichte.
Dabei war der Kosovo-Krieg gut vorbereitet. Und die OSZE half mit
Die Nerven von Colonel Mike Philips liegen dieser Tage blank. "Ihre Fragen sind absolut lächerlich. Ich werde Botschafter William Walker wegen so einem Mist nicht stören", brüllt der ansonsten so stoisch ruhige Militär ins Telephon. Ursache für die Gefühlswallungen des Walker-Assistenten ist ein Katalog von Fragen, den Jungle World für den Chef der momentan nach Skopje ausgelagerten OSZE-Beobachtermission zusammengestellt hatte.

Schon seit Wochen liegen der Redaktion Informationen vor, die darauf schließen lassen, daß ein Teil der von November bis März im Kosovo stationierten 2 000 OSZE-Beobachter (dem auch 80 Bundeswehrsoldaten angehörten) für die Bomben der Nato die Vorhut gemacht haben. Wie aus zuverlässigen Quellen verlautet, waren die US-amerikanischen und britischen Mitglieder der OSZE-Mission während ihres Pristina-Aufenthaltes vornehmlich damit beschäftigt, die Nato mit Informationen über lohnende Ziele für Bomben aller Art zu versorgen. So landeten speziell für militärische Zwecke zusammengestellte Berichte aus der Zentrale der OSZE direkt im Brüsseler Nato-Hauptquartier. Die Altlasten dieser Korrespondenz mußten Stunden vor dem Abzug der OSZE-Beobachter am 20. März rasch beseitigt werden. Mitarbeiter der OSZE bestätigten gegenüber Jungle World, in der Nacht vor dem 20. März hätten im OSZE-Hauptquartier die Papierhäcksler nicht mehr stillgestanden.

Während Assistent Philips ob solcher Vergangenheitsbewältigung die Stimme erhebt, bleibt man im Nato-Hauptquartier ganz gelassen: "Der Informationsfluß zwischen Nato und OSZE verlief während der ganzen Zeit der Mission auf allen Ebenen. Im Nato-Hauptquartier war dafür eine Sondergruppe zuständig, die sich mit diesen Fragen befaßte. Der Leiter dieser Gruppe war in ständigem Kontakt mit William Walker", bestätigt etwa Nato-Pressesprecher Harald Bungarten auf Anfrage von Jungle World.

Auch mehrere ehemalige französische Mitglieder der OSZE-Mission teilten unabhängig voneinander mit, es habe eine gezielte Desinformationspolitik über die wirklichen Ziele der Mission gegeben. Alle Planungen der OSZE seien davon ausgegangen, daß der Mission nach spätestens zwei Monaten Nato-Angriffe folgen würden. Daß die Beobachter dann doch fünf Monate in Pristina zubringen mußten, war wohl ein Betriebsunfall.

Aber nicht nur nach Brüssel hatten die Hobby-Spione von der OSZE gute Beziehungen. Auch zur Kosovo-Befreiungsarmee UCK verfügte man über beste Kontakte. So erzählten die französischen Mitarbeiter am Freitag in Paris, die Organisation habe bei ihrem Abzug Dutzende Mobiltelefone in Pristina zurückgelassen, die bei der UCK gelandet seien. Bis die serbische Regierung auf die Idee verfiel, das Mobilnetz im Kosovo abzuschalten, so die Beobachter, habe die OSZE die Handy-Mania im Kriegsgebiet bezahlt. Und die US-Geheimdienste freuten sich, über die Handys jede Bewegung der UCK-Kader detailgenau mitverfolgen zu können.
aus: Jungle World, 14.04.1999
siehe auch http://www.gegeninformations-buero.partisan.net/