Fachbereich Energie (Atom)

 

Im Mehltau des Atomkonsens
Ein Gesetz macht noch keinen Ausstieg

Wenn der Bundestag noch zur Adventszeit 2001 das Atomgesetz
beschließt, wird der Grüne Umweltminister das als seinen größten
politischen Erfolg verbuchen. Er wird sich da auf das Ziel des Gesetzes
berufen, "die gewerbliche Nutzung der Kernenergie geordnet zu beenden"
(§1, Nr.1 des AtG), Das Ende der Atomwirtschaft ist in Deutschland
eingeleitet, in den 19 betriebenen Reaktoren werden Zug um Zug die Lichter
ausgehen. In durchschnittlich 16 Jahren Laufzeit, bei ständiger Volllast
gar nur 13 Jahre lang, können Kraftwerke dann noch hochradioaktive
Abfälle unter der Gefahr nicht auszuschließender nuklearer Katastrophen
produzieren. Ein schönes Weihnachtsgeschenk aus Grüner
Regierungsverantwortung?

Die Anti-Atombewegung, in der die Partei des Umweltministers ihre
Wurzeln hat, wird allerdings den Wein der Euphorie durch Wermut
verbittern. Sie kann sich mit demselben Recht auf das novellierte
Atomgesetz berufen, das Ziel nämlich, "bis zum Zeitpunkt der
Beendigung den geordneten Betrieb sicherzustellen" Rot/Grün hat
nicht den Ausstieg aus der Atomkraftnutzung beschlossen, sondern
ihre Bestandssicherung für eine relativ lange Frist, die durch einfache
Gesetzesänderung jederzeit verlängert werden kann. Der Rechtsanspruch auf
standortnahe und zeitlich nicht befristete Zwischenlager hilft der
Nuklearindustrie aus einem sonst unvermeidlichen Entsorgungsnotstand; eine
Verschärfung der Sicherheitstechnik wird kaum mehr möglich sein, wenn der
"hohe internationale Standard" und die Fortgeltung der bisherigen
"Sicherheitsphilosophie" gesetzlich verankert worden sind.

Rot/Grün hat sogar darauf verzichtet, eine dynamische
Schadensvorsorge einzuführen, die die Betreiber zum
entschädigungsfreien Einbau neu entwickelter Sicherheitstechniken
verpflichtet. Was für jede Chemiefabrik angeordnet werden kann, gilt
weiterhin nicht für die viel riskanteren Atomkraftwerke. Die katastrophale
Verwundbarkeit dieser Anlagen, die nach dem 11. September öffentlich
bewusst wurde, kann somit auch nicht zu sofortigen Stillegungen führen.
Die Betreiber können da mit besten Erfolgssichten klagen und hohe
Entschädigungen für entgangene Gewinne durchsetzen.

Welche Einschätzung ist zutreffend? Der Streit darüber wird. nach
Verabschiedung des Atomgesetzes müßig, weil er nichts mehr ändert.
Ein besseres Gesetz wird es angesichts der schwächelnden Grünen in
absehbarer Zeit nicht geben. Eine ehrliche Bilanz ist auch nicht zu
erwarten. Die Spitze der Bündnisgrünen wird im Wahljahr Gesetz und
Atomkonsens als bahnbrechenden Erfolg darstellen wollen - auch wenn
große Teile der eigenen Mitgliedschaft das mit Gründen anders sehen. Die
Umweltverbände hingegen müssen entscheiden, ob sie die Grünen trotz ihrer
Atompolitik kritisch unterstützen oder sie ins Nichts der gerissenen
5%-Hürde stürzen lassen. Die Wahl des kleineren Übels zu empfehlen, hat
schon in der Bundesrepublik der 70er Jahre nicht sonderlich überzeugt.

Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Statt sich in rechthaberische
Diskussionen zu verstricken, sollte jetzt über eine Anti-Atompolitik nach
Verabschiedung des Gesetzes geredet werden. Hier ist es dann allerdings
erforderlich, eine strategische Fehlentscheidung der Grünen Spitze zu
korrigieren, die bereits im Koalitionsvertrag mit der SPD angelegt war.
Ich meine das Eingehen auf Schröders Verlangen, die wichtige Entscheidung
über ein Ende der Kernkraftnutzung nur im Konsens mit der sie betreibenden
Wirtschaft zu treffen. Diese Konsensstrategie hatte der verstorbene
VEBA-Chef v. Bennigsen- Foerder 1989 in die Welt gesetzt, sie war vom
niedersächsischen Ministerpräsidenten Schröder Anfang der 90er Jahre
aufgegriffen worden und hatte damals zu ersten Verhandlungen über die
Zukunft der Atomkraft geführt. An diesen Gesprächen waren jedoch, im
Unterschied zur rot/grünen Regierungszeit, sowohl Umweltverbände wie die
damals oppositionellen Grünen (über den hessischen Umweltminister Joschka
Fischer) beteiligt. Die Gegner der Atomkraft konnten also prinzipiell
mitmischen und das Ergebnis war dann, nicht überraschend, ein Scheitern
der Konsensbemühungen.

In der Neuauflage der Konsensstrategie, wie sie 1998 vereinbart
wurde, findet sich diese Pluralität nicht mehr. Die Bundesregierungen
verhandelte nur noch mit den vier großen Stromkonzernen EON, RWE, EnBW und
HEW, zudem tat sie das hinter streng verschlossenen Türen. Sie beging
zudem den kapitalen Fehler, mit der ausgehandelten Vereinbarung nicht
zugleich einen Entwurf zur Novellierung des Atomgesetzes vorzulegen.
Dadurch wurde dieses Gesetz ein Jahr lang verschleppt, außerdem nahmen die
Atomkonzerne auf die Novelle bis in die kleinsten Details Einfluß. Das war
demokratiepolitisch mehr als fragwürdig, zumal. andere gesellschaftliche
Gruppen, die Sicherheitsinteressen der Bevölkerung vertreten, völlig
ausgeschlossen blieben und das Gesetzeswerk erst nach Fertigstellung zu
Gesicht bekamen. Die Umweltverbände wurden nachträglich in einem
entwürdigenden Scheinverfahren angehört, da ernsthafte Änderungen der
Novelle den Konsens mit der Atomindustrie gefährdet hätten. Am 5.November
durften dann Greenpeace und NABU ihre Kritik dem Umweltausschuss des
Bundestags vortragen - im Gesetz findet sich von ihren Anregungen nichts
wieder. Die Novelle des Bundeskabinetts hat das Parlament ohne Änderung
nur eines Jota passiert. Peter Strucks bekanntes Diktum - "kein Gesetz
verlässt den Bundestag so, wie es hineingeht" wurde ausgerechnet am
gesellschaftspolitischen Streitfall "Atomkraft" widerlegt.

Das Erfolgs-Gesetz des Jürgen Trittin, findet also den Segen einer
Atomwirtschaft, deren baldige Abschaffung es einleiten soll. Grenzt
schon das an dialektischen Genickbruch, ist der strategische Fehler, der
mit dem Ausschluss der übrigen Gesellschaft begangen wurde, undialektisch
eindeutig. 30 Jahre Atomkonflikte nicht nur in Deutschland haben
klargemacht, dass die Wirtschaftsinteressen der betreibenden Konzerne und
Sicherheitsbelange der Bevölkerung wie Umweltverantwortung diametral
auseinanderfallen. Es war und ist der Skandal der Atomindustrie, dass sie
Menschen und ganze Länder zu Geiseln nicht auszuschließender Katastrophen
macht und unermessliche Umweltgefahren zukünftigen Generationen aufbürdet.
Eben deshalb hatte sich die Anti-Atombewegung der 70er und 80er Jahre als
Fundamentalopposition entwickelt, die mit einem Industriezweig den
Atomstaat und ein strukturell verantwortungsloses Wirtschaftshandeln
insgesamt herausforderte. Fundamentalopposition ist vielleicht nicht mehr
zeitgemäß, wer aber heute Atompolitik im Einklang mit den Profiteuren
dieser Technologie betreibt, geht mit seinem Anpassungswillen entschieden
zu weit.

Den Atomkonzernen bietet die Konsensstrategie zunächst nur Vorteile. Sie
können auf eine schnelle Genehmigung der Zwischenlager setzen und
vermeiden damit spätestens ab 2005 anfällige und konfliktträchtige
Transporte. Eine Neubewertung der Restrisiken nach dem 11. Septembers
müssen sie nicht fürchten: Atomkraftwerke können weiterlaufen, obwohl sie
vor Anschlägen nicht wirksam zu schützen sind. Vor allem aber hat der
Einigungszwang dem Grünen Umweltminister seine sicherheitspolitischen
Zähne gezogen. Jahrelang waren Versuche zur Stillegung von Atomanlagen am
Veto einer atomfreundlichen Bundesregierung gescheitert; nun mussten sie
wegen des Atomkonsens von einem atomkritischen Umweltminister
zurückgestellt werden. So wurde weder das AKW Biblis trotz unstittiger
Sicherheitsdefizite abgeschaltet, Stade trotz schwerer Materialdefizite
weiterbetrieben, den Betreibern von Philippsburg, Neckarwestheim,
Obrigheim und Isar trotz schwerer Verfehlungen die Betriebserlaubnis nicht
entzogen. Das sind alles die verpassten Chancen eines
sicherheitsorientierten Atomausstiegs.

Die bündnisgrüne Mehrheit, die diese Politik mitgetragen hat, könnte damit
allerdings ihre Brücken in die Anti-Atombewegung bleibend zerstören. Diese
Partei wird sich jetzt überlegen müssen, ob sie weiter in Nibelungentreue
zu einem Atomkonsens steht, an dem nur die wirtschaftlichen Nutznießer
beteiligt waren, Vertreter der Sicherheits- und Umweltbelange aber nicht.
Oder ob sie sich auf die Binsenwahrheit zurückbesinnt, dass ein
Atomausstieg nur im Gegensatz und Konflikt zu denen durchsetzbar ist, die
von dieser Technik profitieren. Nur eine konsequente Konfliktstrategie mit
langem Atem kann den Atomausstieg durchsetzbar machen. Andernfalls wird
auch mit dem neuen Atomgesetz allein der wirtschaftliche Vorteil darüber
entscheiden, ob Kraftwerke stillgelegt oder weiterbetrieben werden. Für
die dazu nötige Änderung gesetzlich festgelegter Laufzeiten wird sich eine
politische Mehrheit immer finden lassen. Um zukünftige Aufweichungen des
Atomgesetzes zu verhindern, wäre das parlamentarische politische Gewicht
der Bündnisgrünen viel zu schwach. Eine starke und kompromisslos kämpfende
Anti- Atombewegung bleibt auch nach Trittins fragwürdigem Adventsgeschenk
unersetzbar.

Ohne starken gesellschaftlichen Druck sind selbst die komfortablen
Abschaltfristen des Atomgesetzes nicht durchsetzbar. Nicht Ideologie
sondern der schnöde Mammon wird die Atomkonzerne alles versuchen lassen,
abgeschriebene Stromkraftwerke so lange wie irgend möglich am Netz zu
halten. Die jetzigen Regierungsgrünen müssen aber auch wissen, dass sie
die Anti-Atombewegung nicht für die Durchsetzung des von ihr bekämpften
Atomkonsenses mobilisieren können.

Und in der Tat hat der Umweltminister seit dem schwarzen 11.
September gute Gründe, sich durchaus fachkompetent aus seinem
verfehlten Schulterschluss mit der Atomwirtschaft zu verabschieden. Er
kann und sollte endlich den Startschuss für eine Debatte zur Frage geben,
ob die Gesellschaft bereit ist, das Restrisiko von Selbstmordattentaten zu
tragen, die in Atomanlagen verheerende Auswirkungen haben können.

Am 27.09. erklärte Jürgen Trittin vor dem Bundestag: "Nach dem
11.09. wird nie wieder jemand den Absturz auf ein Atomkraftwerk als
Restrisiko bezeichnen dürfen. Und dass dieses Restrisiko als - noch so ein
Wort aus der Vorzeit - vernachlässigbar hinzunehmen sei, ist heute
unverantwortlich." Wer so spricht, muss auch springen! Die
"Reaktorsicherheitskommission" hat in verschlüsselten Worten zugeben
müssen, dass eine Atomanlage nicht wirklich zu schützen ist. Der
Umweltminister kann die Chance nutzen und die Debatte um eine deutliche
Beschleunigung des Atomausstiegs über die jetzt gesetzlichen Fristen
hinaus neu eröffnen.

Eine Debatte zum Restrisiko wird umgehend eine Neubewertung der
geplanten 12 Zwischenlager an AKW-Standorten erzwingen. Hier
werden ohne zeitliche Befristung neue Atomanlagen mit hochbrisanter
Fracht eingerichtet, die mindestens bis zur Jahrhundertmitte Land und
Leute gefährden. Sie sind nicht gegen gezielte Flugzeugabstürze oder gegen
direkte Angriffe mit Panzerraketen ausgelegt. Völlig zu Recht wehrt sich
die Bevölkerung an den vorgesehenen Standorten gegen diese Zumutung. Auch
hier ist ein verantwortlich handelnder Umweltminister gefragt: Die
Beachtung neu erkennbarer Terror-Risiken kann und sollte in die Planung
eingehen - die bisher oberirdisch geplanten Hallen müssen als
unterirdische und verbunkerte Atomlager errichtet werden. Dass der
Atomwirtschaft mit verlängerten Planungsfristen ab Mitte 2005, dem seit
heute gesetzlichen Stop der Wiederaufarbeitung aus Deutschland, ein neuer
Entsorgungsnotstand droht, wird ein zusätzlicher Impuls für vorzeitige
AKW-Schließungen sein.

Ohne eine lebendige anti-nukleare Bewegung aber kann es keine
Konfliktstrategie geben.. Über 100 CASTOR-Transporte in den
kommenden Jahren bieten weiterhin die große Chance, die politischen
wie finanziellen Preise dieser Todes-Technologie hochzutreiben. Der
Widerstand wird aber als ewige Wiederkehr des Gleichen versanden,
wenn er sich nicht zumindest europaweit vernetzt. Im Zeitalter von
Währungsunion und liberalisiertem Strommarkt wird ein national
beschränkter Widerstand gegen die Atomkraft entweder überwunden,
oder er droht abzusterben. Eine Vernetzung des antinuklearen
Widerstands in Frankreich und Deutschland, Belgien und Spanien,
England, Tschechien, der Ukraine ist im neuen Jahrhundert angesagt.
Widerstandslager gegen CASTOR-Transporte nicht nur im Wendland,
sondern vor den radioaktiven Giftfabriken Sellafield und La Hague sind da
ein guter Anfang. Europaweite Demonstrationen und Zusammenkünfte in
Cherbourg(Normandie), Liverpool (Irische See) und Straßburg könnten
folgen.

Vom nationalen Atomkonsens waren die KritikerInnen
ausgeschlossen. Mit bleibenden Widerstand gegen die
Atomtransporten und der Planung der Zwischenlager, vor allem aber
einem europaweiten antinuklearen Netzwerk und einer
länderübergreifenden Debatte zum atomaren Restrisiko können sie den
Konflikt neu beleben.


Hartwig Berger, Berlin
( ex-MdA)

11./12. 12.2001